Der Mädchenfänger. Peter Schmidt
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"Lesen Sie denn gar keine Zeitungen? Diese Pfuscher in den Notaufnahmen sind doch schon fast gemeingefährlich."
"Das wäre aber viel bequemer für Sie gewesen."
"Es gefällt mir nun mal, Menschen zu helfen. Außerdem war so ein langer Stau im Zentrum, dass ich dachte, ich nehme lieber gleich die freie Ausfallstraße und bringe Sie zu mir nach Hause." Er versuchte sein charmantestes Lächeln und sah ihr dabei offen in die Augen.
"Fünfzig Kilometer von meiner Wohnung entfernt? Finden Sie das nicht etwas weit?"
"Wie man's nimmt. Ich musste ja ohnehin nach Hause, und für Sie macht es doch eigentlich wenig Unterschied."
"Sie sind ein merkwürdiger Bursche, Robert. Sie sehen gar nicht aus, als wenn Sie so etwas Verrücktes tun würden. Was sagten Sie da vorhin über Ihren falschen Vornamen?"
"Das war nur ein kleiner Scherz. Sie werden sich schon noch an meine Art von Humor gewöhnen. Eigentlich bin ich ziemlich harmlos."
"Ich habe in Ihrem Tagebuch gelesen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es nur dort lag, damit ich Sie ein wenig kennenlernen sollte?"
"Mich kennenlernen?" Quant lachte. "Dann halten Sie die Männer aber für diplomatischer als sie sind. Obwohl – der Gedanke ist ja gar nicht mal so abwegig, einem Mädchen auf diese Weise zu zeigen, was für ein netter Kerl man ist."
"Dass Sie bis vor kurzem für einen Hungerlohn im Pflegeheim gearbeitet haben, hat mir schon imponiert. Und dann die Veranstaltungen, die Sie immer am Wochenende mit den alten Leutchen aufgezogen haben – die Tombola und die Abende, wo sie als Clown und Conférencier aufgetreten sind …"
Ja, wem imponierte das nicht? Quant ging in die Küche, nahm die Pizza aus dem Backofen – der Käse war verlaufen, die Teigkanten sahen appetitlich goldbraun aus – und legte sie auf einen großen geblümten Teller aus dem Geschirrschrank. Er hatte das Haus voll möbliert übernommen, einschließlich des Tagebuchs von Witzigmanns verstorbenem Sohn, in das er noch ein paar Seiten in der gleichen unbeholfenen Druckschrift eingefügt hatte, weil es sich gut für seine eigene "Biographie" eignete.
Die Kladde war auf dem Bücherschrank vergessen worden – neben anderen kuriosen Dingen, wie einer nicht mehr funktionsfähigen Armeepistole und einer Sammlung verblichener Aktfotos, die Witzigmanns Mutter um die Jahrhundertwende beim orientalischen Schleiertanz zeigten.
Sie posierte darauf vor einer Kulisse aus gemalten Minaretten.
Einige Einrichtungsgegenstände waren allerdings längst reif für den Sperrmüll, wie Witzigmanns Schaukelstühle aus Korbgeflecht zum Beispiel, die knarrten und bei jeder Bewegung fast auseinander fielen. Aber manche Möbel und Einrichtungsgegenstände konnten sich durchaus sehen lassen. Witzigmann hatte sich in einer umfangreichen Inventarliste bestätigen lassen, was ihm bei Quants Auszug übergeben werden musste.
"So, Franziska", sagte er und stellte den Teller vor sie hin. "Das wird Ihnen wieder auf die Beine helfen. Bis nachher. Ich werde jetzt im Garten nach den Dobermännern sehen."
Er schloss die Tür hinter sich, drehte aber nicht den Schlüssel im Schloss um, weil sie das unweigerlich misstrauisch machen würde, sondern ließ im Gang nur den versteckten Riegel hinter der Deckenverblendung der Garderobe einrasten. Franziska würde niemals entdecken, dass die Labortür abgeschlossen war. Es gab keinen anderen Ausgang aus dem Anbau.
Die meisten Frauen hatte Angst vor Hunden, auch wenn sie es nicht gern zugaben. Als er im Labor war, schaltete er das Tonbandgerät ein und ließ ein mörderisches Hundegebell erklingen, als sprängen blutrünstigen Bestien an ihm hoch, um Futter zu ergattern. Er fand, es klang so echt, dass man unwillkürlich erschauderte.
5
Angela hatte nachmittags angerufen und eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen. Es lief kein Film, der sie interessierte, erst recht keiner mit Tom Sighcore, aber wenn er wolle, könne er sie abends auf die Kirmes begleiten. Ihre Stimme klang übertrieben selbstbewusst – wie die eines Teenagers, der sich bemühte, seine Verlegenheit zu überspielen.
Eine richtige kleine Frau, dachte er lächelnd. So verschlagen und diplomatisch wie alle. Sie hatte sich wahrscheinlich vorher genau zurechtgelegt, was sie sagen würde und wie es klingen sollte. Kirmes war genau das Richtige für sie, dort wurden sie beide von einer Menge Leuten gesehen. Quant nahm nicht an, dass Angela sich wirklich in ihn verknallt hatte.
Aber da Tom Sighcore momentan verhindert war, blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich mit den Unzulänglichkeiten des Schicksals abzufinden.
Er bedauerte es, dass Franziska noch ein paar Tage brauchen würde, um sich einzuleben und mit ihrer neuen Situation fertig zu werden. Im Moment war es fast so, als existiere sie gar nicht für ihn, als lebe er allein im Haus.
Man musste sich streng an die Regeln halten, um sie in die richtige Verfassung zu bringen. Er beherrschte das jetzt schon aus dem Stegreif. Obwohl die Reaktionen der Mädchen immer unterschiedlich waren, gab es in dieser Phase selten große Überraschungen. Es kam sogar vor, dass er sich fürchterlich langweilte und dem Augenblick entgegenfieberte, an dem er endlich die Katze aus dem Sack lassen konnte. Dann versuchte er sich mit Büchern und Magazinen über die Runden zu helfen. Aber oft erzeugte das auch nicht mehr als gähnende Langeweile bei ihm, weil er sich ständig fragte, wie es wohl mit ihnen sein würde. Deshalb war er dankbar für jede Abwechslung. Angelas Einladung kam ihm gerade recht.
Als es an der Haustür läutete, ging er hinunter und nahm seine pharmakologischen Fachzeitschriften entgegen, ein drei Kilogramm schweres Paket. Es war nicht der Fahrer des Postwagens, den er kannte. Die alte Plaudertasche mit dem Menjoubärtchen und den etwas zu weiten Hosen war Quant schon fast ans Herz gewachsen, aber wenigstens versuchte er ihm nicht zu erklären, wer kürzlich in der Nachbarschaft überfahren worden war. Quant war gerade dabei, es sich mit seinen Zeitschriften im Liegesessel bequem zu machen (das würde hoffentlich für den langweiligen Rest des Nachmittags reichen), als es zum zweiten Mal läutete. Vom Salon im Anbau durch das Haus und über die Treppen war es ein ziemlich langes Stück, deshalb schob er erst einmal den Vorhang beiseite und sah in den Garten hinunter.
An der Treppe stand ein seltsames weibliches Wesen in dunkelblauem Kostüm mit der Mütze der Heilsarmee. Die Sammelbüchse und die Informationshefte in ihrer Hand hätten ihn normalerweise davon abgehalten, überhaupt die Tür zu öffnen. Aber die junge Frau erinnerte ihn verblüffend an seine verstorbene Schwester …
Sie war sehr groß und schlank und sah irgendwie leidend oder verhärmt aus. Wie jemand, der tapfer gegen die Widrigkeiten des Schicksals ankämpfte, das allen so übel mitspielte, und bereit war, sein Leben in den Dienst des anderen zu stellen. Es gab wohl keinen Menschen auf der Welt, außer vielleicht seiner Mutter, der ihm ein ähnlich großes Rätsel gewesen war wie seine Schwester. Und die junge Frau an der Haustür hatte sogar die gleiche Kopfhaltung, scheinbar verständnisvoll zur Seite geneigt, als habe sie etwas nicht richtig verstanden – eine Antwort, die sie ihm abverlangte – als sei der ganze verdammte Weiberhaushalt seit dem Tode seines Vaters plötzlich wiedererstanden.
Je länger er sie betrachtete, desto stärker wurde sein Interesse an ihr. Wie konnte jemand, der so gut aussah wie sie, sich einer so lächerlichen Beschäftigung widmen, bei der nie mehr heraussprang, als ein paar sabbernde Obdachlose mit Suppe und Schokoladenprinten zu bewirten und ihnen von Gottes unendlicher Gnade zu erzählen? Er zog seinen Morgenmantel aus