Schattendasein - Der erste Teil der Schattenwächter-Saga. Sandra Grauer
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»Wer?«
»Na Gabriels Familie. Du weißt doch, was ich mein. Diese ganzen Kommentare von Gabriel, die Gerüchte, das Referatsthema ...«
»Also Joshua ist ganz in Ordnung. Ich kam immer sehr gut mit ihm klar. Na und Gabriel. Ich bin nicht sicher, was ich von ihm halten soll oder was an den Gerüchten dran ist. Hat auf jeden Fall 'ne ziemlich große Klappe.«
»Kennst du auch den Rest seiner Familie?« Ich sah Tim fragend an.
»Ich war einmal bei Joshua zu Hause. Seitdem sind sie aber umgezogen, soweit ich weiß. Der Vater und die kleine Schwester haben einen netten Eindruck gemacht, die Mutter war mir ein wenig unsympathisch, aber sie wirkte normal. Und trotzdem ...« Er stoppte.
»Was?«
Er zog die Schultern hoch und schmierte sich Butter auf beide Brötchenhälften. »Weiß auch nicht. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass die was zu verbergen haben.«
Nachdem Tim gegangen war, rief ich sofort Hannah an. Sie war ein wenig sauer auf mich, dass Gabriel mir die Unterlagen mitgebracht hatte, auch wenn ich ja eigentlich nichts dafür konnte. Schließlich hatte ich ihn nicht darum gebeten. So sauer war Hannah dann aber doch nicht, als dass sie sich nicht gleich auf den Weg zu mir gemacht hätte. Gabriel war allerdings schon wieder weg, bis sie da war. Hannahs Laune wurde noch mieser.
Wir machten uns daran, die Unterlagen durchzusehen. Je mehr Seiten wir durchblätterten, desto mulmiger fühlte ich mich. Gabriel hatte wirklich sämtliches Recherchematerial, das er finden konnte, in diesen Ordner geheftet. Mir war von vornherein klar gewesen, dass es sich bei Satanismus um ein unangenehmes Thema handelte, aber mit dem, was ich zu sehen bekam, hatte ich nicht gerechnet. Im Ordner befanden sich nicht nur Informationen über die Geschichte und Entwicklung des Satanismus, sondern auch ausführliche Beschreibungen diverser Rituale. Mir wurde fast schlecht. Was hatte Hannah sich bei der ganzen Sache nur gedacht? Wir hätten sicher noch einen angenehmeren Weg gefunden, mit Gabriel ins Gespräch zu kommen.
Wenigstens waren Hannah und ich uns einig, dass wir uns in unserem Referat auf die Entstehung und Entwicklung des Satanismus beschränken wollten und als Anschauungsmaterial lediglich einige Symbole zeigen wollten, die mit dem Satanismus in Zusammenhang standen. Und danach wollte ich das Thema und Gabriel einfach nur noch vergessen.
»Nächster Halt: Evangelische Kirche«, dröhnte die markante Männerstimme durch den Bus.
Ich schreckte hoch und sah aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich zugezogen, und die Dämmerung war bereits über Heidelberg hereingebrochen, aber ich konnte noch genug sehen, um zu erkennen, dass der Busfahrer die richtige Haltestelle durchgesagt hatte. So ein Mist, jetzt hatte ich doch tatsächlich meine Haltestelle verpasst. Hastig klappte ich mein Buch zu, ließ es in meine Tasche fallen und sprang auf, um diese Haltestelle nicht auch noch zu verpassen. Als ich gerade noch rechtzeitig auf den roten Knopf drückte, blieb der Bus mit quietschenden Reifen stehen. Einige Passagiere schüttelten den Kopf. Stolpernd stieg ich aus und bemühte mich, schnell außer Sichtweite zu kommen. Ich bog in die Kreuzstraße ein und atmete ein paar Mal tief durch.
So etwas war mir noch nie passiert, aber Stolz und Vorurteil war einfach so schön gewesen, dass ich alles um mich herum vergessen hatte. Zum Glück war es heute Vormittag doch noch geliefert worden. Viel hatte ich aber noch nicht darin lesen können, denn nachdem Hannah und ich vorerst keine Lust mehr darauf hatten, uns mit Satanismus zu befassen, waren wir in der Stadt gewesen. Hannah hatte unbedingt etwas Neues zum Anziehen kaufen wollen, und im Gegensatz zu mir war sie auch fündig geworden. Sie war der Meinung, ein Shopping-Tag ohne volle Einkaufstaschen war ein verlorener Tag, aber ich sah das nicht so. Außerdem hätte ich eh kein Geld für neue Klamotten gehabt. Ich hatte mir in diesem Monat schon so viele Bücher gekauft, dass mein ganzes Taschengeld dabei drauf gegangen war. Und jetzt freute ich mich darauf, nach Hause zu kommen, um weiterlesen zu können. Wenigstens war ich nur eine Haltestelle zu weit gefahren. Zwar war es noch recht mild, aber es fing an, zu nieseln, und ich hatte meinen Regenschirm zu Hause liegen lassen. Ich hätte weiter geradeaus durch die Klappergasse nach Hause laufen können, doch es zog mich wie immer in Richtung der kleinen Straße Hostig. Ich beschleunigte meine Schritte, um zu Hause zu sein, bevor es richtig anfing, zu regnen und lief den kleinen, düsteren Pfad entlang. Hier wurde es besonders schnell dunkel, denn überall gab es Bäume und Büsche. Außerdem verlief rechter Hand eine hohe Mauer, die das Gelände meiner Schule vor neugierigen Blicken schützen sollte. Ich hatte aber keine Angst, denn wir wohnten in einer guten Gegend, hier war noch nie was passiert. Der Heidelberger Stadtteil Wieblingen war ein friedliches Örtchen, und bei meiner Schule handelte es sich um eine Privatschule. Schnell ging ich also den kleinen Pfad entlang und hatte fast den Spielplatz auf der linken Seite erreicht, als ich ein komisches Geräusch hörte. Ich blieb stehen. Was war das? Für einen Moment hielt ich unbewusst die Luft an, aber es war nichts mehr zu hören. Ich wollte weitergehen, als plötzlich jemand schrie. Mein Herz schlug wie wild, ich zuckte zusammen. Die Geräusche kamen vom Spielplatz, der nur noch ein paar Meter entfernt war. Ich schluckte schwer und überlegte fieberhaft. Was sollte ich machen? Am liebsten wäre ich einfach nach Hause gerannt, aber was, wenn hier jemand Hilfe brauchte? Ganz in der Nähe war eine Polizeiwache, die könnten also schnell jemanden herschicken. Aber zuerst musste ich wissen, was hier eigentlich los war. So leise wie möglich schlich ich den Weg weiter entlang Richtung Spielplatz. Die Geräusche wurden immer lauter und mir immer schlechter. Und da sah ich sie: die Umrisse von drei Männern, die miteinander kämpften. Ich ließ einen erstickten Schrei los und schlug mir die Hand vor den Mund, um mich nicht zu verraten. Mein Herz schlug wie wild, ich konnte kaum noch richtig atmen. Hastig griff ich in meine Tasche und suchte nach meinem Handy. Warum hatte ich es nicht schon vorher herausgeholt? Vor Angst und Nervosität zitterten meine Hände, und ich ließ die Tasche fallen. Ich erstarrte, doch die Männer schienen nichts zu bemerken. Schnell hockte ich mich hin, leerte den kompletten Inhalt der Tasche auf dem Boden aus. Mit schweißnassen Händen griff ich nach meinem Handy. Scheiße, wie war die Nummer der Polizeiwache? Egal, dann eben 110. Das Blut rauschte in meinen Ohren, während die Sekunden vergingen. »Notruf, was kann ich für Sie tun?«, fragte eine weibliche Stimme. »Bitte schicken Sie sofort die Polizei her«, flüsterte ich. Meine Stimme zitterte. »Sie müssen lauter sprechen, ich habe Sie nicht verstanden.« »Ich kann nicht lauter sprechen«, antwortete ich und kroch auf allen Vieren rückwärts, um von den Männern wegzukommen. »Sie müssen die Polizei herschicken, bitte. Da kämpfen drei Männer miteinander.« In diesem Moment entdeckten sie mich. Mein Herz setzte einen kurzen Moment aus und schlug dann noch schneller weiter. »Wo sind Sie denn?«, wollte die Frau wissen, doch ich brachte keinen Ton heraus. Zwei der Männer hielten inne und sahen zu mir hinüber. Der dritte Mann nutzte die Gelegenheit, riss sich los und rannte weg. Er kam genau auf mich zu. Die anderen beiden Männer folgten ihm sofort. »Hallo, sind Sie noch da? Wo befinden Sie sich?« Ich schluckte und antwortete mit zitternder Stimme: »In Heidelberg, Wieblingen. Der Spielplatz beim Gymnasium. Bitte, kommen Sie schnell.« Die Männer waren gleich bei mir. Tränen stiegen mir in die Augen. Mittlerweile zitterte nicht nur meine Stimme. Ich zitterte am ganzen Körper. »Ich werde sofort einen Streifenwagen losschicken. Sagen Sie mir noch schnell Ihren Namen.« »Emmalyn Blum«, antwortete ich mit tränenerstickter Stimme. »Es wird gleich jemand da sein. Haben Sie keine Angst, und verhalten Sie sich ruhig.« Dann legte die Frau auf. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Angst wie in diesem Moment. Ich ließ das Handy auf den Boden fallen und stand auf, wollte wegrennen. Doch ich stolperte und fiel hin. Der erste Mann hatte mich fast erreicht, als die beiden anderen Männer ihn einholten. Beide Verfolger hatten Schwerter dabei. Ich wollte schreien, doch ich bekam keinen Ton heraus. Einer der Männer schlug mit dem Schwert zu und traf den ersten Mann von hinten. Er fiel zu Boden und direkt auf meine Beine. Ich versuchte, nach hinten zu rutschen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Der Mann war zu schwer. »Stirb«, hörte ich eine tiefe Stimme. Ich konnte nicht sehen, wer gesprochen hatte. »Bitte tun Sie mir nichts«, stammelte ich. Meine Stimme war vor Angst kaum zu hören. Tränen strömten mir über die Wangen, und ich zitterte