Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band. Hugo Friedländer

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Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band - Hugo Friedländer

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von sechs bis sieben Jahren der in Rede stehende Zustand doch noch dann und wann, jedenfalls nicht allzuselten, zur Beobachtung kommt, so daß das Vorhandensein gerade dieser Mißbildung bei beiden Knaben immerhin ein Zufall sein kann. Sonstige anatomische Obereinstimmungen zwischen dem kleinen Grafen und dem kleinen Felix Pracza finden sich noch in dem Verlauf der Handlinien und in der Nase, soweit die breite Nasenwurzel in Frage kommt, die ganz und gar von dem Kwileckischen Typus abweiche. Augenfällige Unterschiede zeigen sich bei dem durch Ecke und Gegenecke gebildeten Schnitt am Ohr. Der Gang der beiden Kinder könne wegen der Knochenverkrümmung bei dem Felix Pracza überhaupt nicht miteinander verglichen werden, was um so mehr zu bedauern sei, als gerade der Gang bei dem Joseph Stanislaus recht charakteristisch sei.

      Ziehe man nun das Fazit aus all diesen Betrachtungen, so ergebe sich, daß zwar eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen den Gesichtszügen des Joseph Stanislaus und denen des Grafen und der Komtessen bestehe, und daß auch hinsichtlich der Ohrformen Anklänge zwischen dem Kinde und der Gräfin vorhanden seien, aber auch nur Anklänge, keineswegs eine Identität. Demnach habe die anatomische Untersuchung keine Anhaltspunkte für die sichere Zusammengehörigkeit des Knaben Joseph Stanislaus zu der gräflichen Familie ergeben, andererseits können die Sachverständigen aber auch nicht die Zusammengehörigkeit des umstrittenen Knaben zu der Familie der Frau Meyer sicher beweisen.

      Der zweite Gutachter, Gerichtsarzt Medizinalrat Professor Dr. Straßmann schloß sich in den Einzelheiten dem Vorgutachten an. Die Kommission sei vor eine Aufgabe gestellt gewesen, wie sie wohl kaum jemals einem Gerichtsarzt vorgelegt worden sei. Es fehlten hier die Grundlagen für ein wissenschaftliches Gutachten und man könne hier auch nur ein Wahrscheinlichkeitsgutachten erwarten. Das Urteil über Ähnlichkeit sei ein sehr subjektives und es können Irrtümer vorkommen. Eine sichere Unterlage bilde schon das Vorhandensein von besonderen Familieneigentümlichkeiten oder von Abnormitäten. Er komme zu folgendem Ergebnisse: einerseits sei eine allgemeine Ähnlichkeit dieses Knaben mit dem anderen oder mit der Frau Meyer nicht vorhanden. Andererseits falle ins Gewicht, daß die Genitalien der beiden Kinder dieselbe Abnormität zeigen. Das Vorkommen dieser Abnormität sei zwar nichts Außergewöhnliches, auffallend sei es aber, daß sie gerade bei diesen beiden Knaben gleichzeitig vorhanden sei. Eine Abschätzung, welches dieser beiden Momente gewichtiger sei, lasse sich nicht machen. Daher könne hieraus auch kein Schluß weder nach der einen noch nach der anderen Seite gezogen werden.

      Der dritte Gutachter, Kunstmaler Prof. Hugo Vogel, bemerkte auf Befragen, daß sein Spezialfach Geschichte und Porträt sei. Er erstattete alsdann folgendes Gutachten:

      Das Urteil, das Sie von mir verlangen, wird ein subjektives bleiben müssen. Hier erscheint die Feststellung der Ähnlichkeit um so schwieriger, als der kleine Pracza entstellt ist durch schwere Rachitis. Immerhin finde ich, daß die Rachitis nicht imstande war, die Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Pracza und seiner Mutter zu verwischen. Daraus ziehe ich den Schluß, daß, wenn eine Ähnlichkeit vorhanden gewesen wäre, sie auch jetzt noch zu erkennen sein müßte zwischen dem kleinen Pracza und dem kleinen Grafen. Der Typus der beiden Kinder ist für mich, vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet, ein ganz verschiedener. Der kleine Graf hat ein gradliniges Profil, das des kleinen Pracza ähnelt dem seiner Mutter und Tante. Zwischen dem kleinen Grafen und der Frau Gräfin finde ich eine gewisse Ähnlichkeit. Die ovale Gesichtsform der Frau Gräfin hat etwas Viereckiges, das ist auch bei dem kleinen Joseph Stanislaus der Fall. Auf die Ohren soll ja nach der Versicherung der Herren Ärzte die Rachitis keine Einwirkung ausüben. Ich habe die Ohren der beiden Knaben mit einigen Strichen gezeichnet, und da finde ich als Künstler, daß das Ohr des kleinen Pracza ein ziemlich gewöhnliches ist, während das des kleinen Grafen ein recht charakteristisches, rassiges Aussehen hat und in bezug auf die Bildung eines kleinen Knöllchens hinter dem Ohre eine Übereinstimmung mit dem Ohr der Frau Gräfin zeigt. Ich komme also zu dem Schluß, daß eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Pracza und seiner Mutter besteht, daß aber andererseits auch eine Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Grafen und der Frau Gräfin sowie seiner Schwester Komtesse Marie nicht zu leugnen ist.

      Kriminalinspektor Klatt spricht sich auch dahin aus, daß das abzugebende Urteil unter den vorliegenden Verhältnissen nur ein subjektives sein könne. Gerade bei Ähnlichkeitsfragen kämen die größten Irrtümer vor. Als der Raubmörder Wetzel das schwere Verbrechen in Spandau begangen hatte und verfolgt wurde, ließ eine Frau einen Mann arretieren, in dem sie mit aller Bestimmtheit den Mörder, den sie unmittelbar nach der Tat gesehen, wiedererkennen wollte. Gleich ihr ging es noch vielen anderen Leuten, bis es sich herausstellte, daß der Verhaftete das Opfer einer auffallenden Ähnlichkeit mit dem Täter geworden war. Einer der berühmtesten Kriminalbeamten, die es je gegeben, sei der verstorbene Kriminalkommissar Wolschina gewesen. Dieser habe einmal auf dem Hinterperron eines Pferdebahnwagens gestanden, als er einen lange gesuchten schweren Verbrecher vor einem Schaufenster stehen sah. Er sprang hinunter und packte den Gesuchten mit den Worten: »Nun habe ich dich endlich!« Der Ergriffene habe ruhig gefragt: »Was wollen Sie von mir, Herr Kommissar?«

      »Das werde ich dir auf dem Molkenmarkt sagen.«

      Auf dem Molkenmarkt habe sich herausgestellt, daß Wolschina einen Kriminalschutzmann arretiert hatte. (Heiterkeit.) Dergleichen Ähnlichkeitstäuschungen hätten der Polizei schon viele Schwierigkeiten gemacht. Der Sachverständige ließ sich dann über das Bertillonsche System aus und knüpfte hieran seine Betrachtungen über die Ohrenfrage. Bekanntlich gäbe es nicht zwei Personen auf der Welt, die vollständig gleiche Ohren hätten. Ebensowenig wie zwei vollständig gleiche Hände. Das Ohr des kleinen Grafen habe an einer Stelle eine ähnliche Abflachung, wie das der angeklagten Gräfin, es beständen aber außerdem so viele Unterschiede, daß darauf unmöglich ein abschließendes Urteil sich aufbauen ließe.

      Am 19. Verhandlungstage begannen die Plädoyers.

      Staatsanwalt Dr. Müller führte aus: Wenn Ihnen vor Jahr und Tag jemand mit den geradezu verblüffenden Einzelheiten des polnischen Dramas gekommen wäre, so würden Sie diese für das Produkt einer überhitzten Romanphantasie oder für die Ausgrabung aus mittelalterlichen Chroniken gehalten haben. Und in der Tat, eine ganze Reihe von Momenten sind hier in Erscheinung getreten, die einer weiten Vergangenheit anzugehören scheinen. Kein Roman, kein Theaterstück kann, wie sich hier wieder zeigt, an das wirkliche Leben mit seinen kaleidoskopartigen Mannigfaltigkeiten heranreichen. Das wirkliche Leben schlägt in dieser Beziehung jede Konkurrenz. Der Staatsanwalt beleuchtete alsdann in eingehender Weise die Zeugenaussagen und schloß mit etwa folgenden Worten:

      Gegenüber diesen unwiderleglich feststehenden Tatsachen lassen Sie sich, meine Herren Geschworenen, nicht durch allerlei Nebendinge von der Hauptsache ablenken. Wenn Sie dieser meiner Ansicht folgen und das verdächtige Verhalten der Gräfin vor und nach der angeblichen Entbindung, das durch nichts zu beschönigen ist, wenn Sie ferner die ehelichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und den mysteriösen Aufenthalt der Gräfin in Paris berücksichtigen, so können Sie sich der zwingenden Beweiskraft solcher Tatsachen unmöglich entziehen. Die Beweise sind so zwingend und überzeugend, daß man sich eigentlich an den Kopf fassen und sich fragen muß, warum es erst noch der Entrollung eines so kolossalen Beweismaterials bedurfte. Wer logisch denken kann, der muß sich zu der Überzeugung bekennen, daß die Gräfin das Verbrechen begangen hat. Wenn Sie noch mehr Beweise verlangen sollten, dann würden Sie dem viel angefeindeten Schwurgerichtsverfahren direkt das Todesurteil sprechen. (Unruhe auf der Geschworenenbank.)

      Die Gräfin ist schuldig, und zwar schuldig der Kindesunterschiebung, um dadurch Vermögensvorteile zu erlangen. Um nichts und wieder nichts wird diese Gräfin sicher nicht ein fremdes Bankert annehmen und ihr eigenes Nest beschmutzen. Es handelt sich keineswegs in erster Linie um einen »Kampf ums Majorat«. Diese Zivilstreitigkeiten müssen hier völlig im Hintergrunde bleiben; sie gehören vor das Zivilgericht, hier aber handelt es sich um ein Delikt gegen die allgemeine Rechts- und Staatsordnung, das geeignet ist, den öffentlichen Glauben zu erschüttern, wie denn auch das frühere Zivilurteil durch Lug und Trug zustande gekommen ist.

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