Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London
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Im Hintergrund ihres Bewußtseins lag das Problem, wie sie ihm helfen könnte, und sie lenkte die Unterhaltung in diese Richtung; aber es war Martin, der das erste Wort sprach.
»Ich möchte so gern einen Rat von Ihnen haben«, begann er, und sie ging sofort bereitwillig darauf ein, daß sein Herz einen Sprung tat. »Sie erinnern sich vielleicht, daß ich neulich sagte, ich könnte nicht über Bücher und dergleichen reden, weil ich nicht wüßte, wie. Nun, seitdem hab ich ein ganz Teil darüber nachgedacht. Ich bin viel in der Bibliothek gewesen; aber die meisten Bücher, mit denen ich mich abgegeben habe, waren mir zu hoch. Es wäre vielleicht am besten, wenn ich ganz von vorn anfinge. Ich habe nie etwas Ordentliches gelernt, von Kind an habe ich ziemlich schwer gearbeitet, und nachdem ich in der Bibliothek gewesen bin und die Bücher mit andern Augen angesehen habe – ja, auch neue Bücher gesehen habe –, ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß ich nicht die richtigen gelesen habe. Sehen Sie, die Bücher, die man auf einer Viehranch oder in der Back findet, sind nicht dieselben, die Sie zum Beispiel hier im Hause haben. Und solche Art Bücher war ich eben gewohnt. Und doch – und ich will damit jetzt nicht prahlen – bin ich anders gewesen als die Leute, mit denen ich zusammen Vieh hütete. Nicht daß ich etwas Besseres bin als die Matrosen und die Viehhirten, mit denen ich zusammen lebte – ich bin eine Zeitlang Viehhirt gewesen, wissen Sie –, aber ich habe immer Bücher geliebt und alles gelesen, was ich in die Finger kriegen konnte, und… ja, ich glaube, ich denke anders als die meisten von ihnen.
Aber was ich sagen wollte: Ich bin noch nie in einem Hause wie diesem gewesen. Als ich vor einer Woche herkam und Sie und Ihre Mutter und Ihre Brüder und alles andere sah, da – ja, es gefiel mir. Ich hatte von solchen Dingen gehört und in Büchern darüber gelesen, und als ich mich in Ihrem Hause umsah, da war es gerade wie in den Büchern. Aber was ich sagen wollte: es gefiel mir. Ich hätte es gern selbst so gehabt. Ich möchte es gern jetzt so haben. Ich möchte, daß die Luft, die ich atme, so ist wie in diesem Hause – eine Luft, die von Büchern, Bildern und schönen Dingen erfüllt ist, in der die Leute leise reden, rein sind und rein denken. Die Luft, die ich bisher geatmet habe, war immer vermischt mit Essen und Miete und Kneipen und Schlägereien, und das war auch alles, worüber man redete. Sehen Sie, als Sie durchs Zimmer gingen und Ihre Mutter küßten, dachte ich, das ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Ich habe allerhand in meinem Leben gesehen, und auf eine Art habe ich eine Masse mehr dabei erlebt als die meisten, mit denen ich zusammen war. Ich will sehen, und ich möchte gern mehr sehen und es auch anders sehen.
Aber ich bin noch nicht zur Hauptsache gekommen, und die ist: Ich will versuchen, es dahin zu bringen, daß ich ein Leben führen kann, wie Sie es hier im Hause leben. Es gibt anderes und Besseres im Leben als schwere Arbeit und Kneipen und sich herumtreiben. Aber wie soll ich das erreichen? Wo soll ich anfangen? Ich will dafür arbeiten, wissen Sie, und ich kann es mit den meisten aufnehmen, wenn es schwere Arbeit gilt. Wenn ich erst einmal angefangen habe, werde ich Tag und Nacht arbeiten. Vielleicht finden Sie es komisch, daß ich Sie nach alledem frage, ich weiß, Sie sind die letzte auf der Welt, die ich fragen sollte, aber ich kenne sonst niemand, den ich fragen könnte… außer Arthur. Vielleicht sollte ich lieber ihn fragen. Denn ich…«
Seine Stimme versagte. Die feste Entschlossenheit, die ihn bisher getrieben hatte, verschwand bei dem furchtbaren Gedanken, daß er Arthur hätte fragen sollen und daß er sich lächerlich gemacht habe. Ruth antwortete nicht gleich. Sie war zu sehr damit beschäftigt, seine stammelnde, unbeholfene Sprache und seinen einfachen Gedankengang mit seinem Gesichtsausdruck in Einklang zu bringen. Noch nie hatte sie in Augen geblickt, die eine solche Kraft ausstrahlten. Hier war ein Mann, der alles vermochte, so lautete die Botschaft, die sie in ihnen las, und die klang schlecht mit dieser mangelhaften Fähigkeit zusammen, seine Gedanken auszudrücken. Im übrigen war ihr eigenes Denken so kompliziert und schnell, daß sie Einfachheit nicht richtig zu würdigen vermochte; aber dennoch empfand sie, welche Kraft selbst in diesem Tasten seines Geistes lag. Er war ihr wie ein gefesselter Riese vorgekommen, der an seinen Banden riß und zerrte. Und als sie endlich sprach, drückte ihr Gesicht unendliches Mitgefühl aus.
»Sie wissen ja selbst sehr gut, was Sie brauchen: systematische Ausbildung. Sie sollten zuerst die Elementarschule beenden und dann die höhere Schule und die Universität besuchen.«
»Aber das kostet Geld«, warf er ein.
»Oh!« rief sie. »Daran hatte ich nicht gedacht. Aber Sie müssen doch Verwandte haben – irgend jemand, der Ihnen helfen könnte?«
Er schüttelte den Kopf.
»Mein Vater und meine Mutter sind tot. Ich habe zwei Schwestern, die eine ist verheiratet, und die andere wird wohl bald heiraten. Dann habe ich noch ein ganzes Schock Brüder – ich bin der Jüngste –, aber die haben noch nie jemand geholfen. Die treiben sich in der ganzen Welt herum und haben genug mit sich selbst zu tun. Der Älteste starb in Indien. Zwei sind jetzt in Südafrika, einer ist auf Walfang, und einer zieht mit einem Zirkus herum – er arbeitet am Trapez. Und mir geht es ganz wie ihnen. Seit meinem elften Jahr – als meine Mutter starb – habe ich selbst für mich gesorgt. Ich werde auch wohl auf eigene Faust studieren müssen, und was ich wissen möchte, ist eben, wo ich anfangen soll.«
»Zuallererst sollten Sie sich eine Grammatik anschaffen. Ihr Satzbau ist…« Sie hatte »schrecklich« sagen wollen, änderte es aber in »nicht besonders gut«.
Er errötete und schwitzte.
»Ich weiß, daß ich eine Menge Slang und Wörter rede, die Sie nicht verstehen. Aber das sind eben die einzigen, von denen ich weiß, wie ich sie aussprechen soll. Ich habe andere Wörter im Kopf – Wörter, die ich in Büchern gelesen habe, aber ich kann sie nicht aussprechen, und deshalb gebrauche ich sie nicht.«
»Es ist weniger was, als wie Sie es sagen. Sie brauchen nur etwas mehr Grammatik. Jetzt werde ich Ihnen ein Buch holen und zeigen, wie Sie anfangen sollen.« Als sie aufstand, fiel ihm etwas ein, das er in den Büchern über den guten Ton gelesen hatte, und er erhob sich linkisch, in schrecklicher Angst, daß es doch nicht richtig sei und daß sie es als Zeichen seines Aufbruchs ansehen könnte.
Als sie mit der Grammatik wiederkam, schob sie einen Stuhl neben den seinen – er dachte darüber nach, ob er ihr hätte helfen sollen – und setzte sich neben ihn. Sie blätterte in der Grammatik, und ihre Köpfe näherten sich einander. Er hatte Mühe, ihr, als sie ihm jetzt einen Arbeitsplan machte, zu folgen, so benommen war er von ihrer köstlichen Nähe. Als sie ihm aber die Bedeutung der Konjugation zu erklären begann, vergaß er sie über seiner Arbeit. Er hatte nie von diesen Dingen gehört und war vollkommen bezaubert von dem Einblick in das Knochengerüst der Sprache. Er beugte sich tiefer über das Buch, und ihr Haar berührte seine Wange. Er war nur einmal in seinem Leben ohnmächtig geworden, aber in diesem Augenblick fühlte er sich wieder einer Ohnmacht nahe. Er konnte kaum atmen, und sein Herz preßte ihm das Blut in die Kehle, daß er fast erstickte. Nie war sie ihm so erreichbar erschienen wie jetzt. Für den Augenblick war der Abgrund zwischen ihnen überbrückt. Aber sein Gefühl für sie war deshalb nicht weniger erhaben. Sie war nicht zu ihm herabgestiegen. Er war es, der in die Wolken gehoben und zu ihr getragen wurde. Die Verehrung, die er in diesem Augenblick für sie hegte, glich religiöser Ehrfurcht und Inbrunst. Ihm war, als sei er ins Allerheiligste eingedrungen, und langsam und vorsichtig entzog er seinen Kopf der Berührung, die auf ihn wie ein elektrischer Schlag gewirkt und die sie gar nicht bemerkt hatte.
Achtes Kapitel
Mehrere Wochen vergingen, in denen Martin Eden seine Grammatik studierte, die Bücher über den guten Ton wieder vornahm und alle Werke verschlang, die sein Interesse