Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London
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»Haben Sie gefunden, was Sie suchten?« fragte ihn der Mann am Pult, als er ging.
»Ja«, antwortete er. »Sie haben eine sehr schöne Bibliothek.«
Der Mann nickte. »Wir würden uns freuen, wenn Sie öfter wiederkämen. Sind Sie Seemann?«
»Ja«, antwortete er. »Und ich komme wieder.«
Woher weiß er das nur? fragte er sich, als er die Treppe hinunterschritt.
Und bis zur nächsten Straßenecke ging er sehr steif und gerade und linkisch, dann aber verlor er sich in Gedanken und verfiel wieder in seinen natürlichen, wiegenden Gang.
Sechstes Kapitel
Eine schreckliche Unrast, eine Art Hunger hatte Martin Eden gepackt. Ihn hungerte nach dem Anblick des jungen Mädchens, dessen zarte Hände so gewaltig wie die eines Riesen in sein Leben gegriffen hatten, aber er konnte sich nicht dazu ermannen, sie zu besuchen. Er fürchtete, daß es zu früh sein und daß er sich dadurch eines furchtbaren Bruchs dieses »Etikette« genannten Dinges schuldig machen würde. Er verbrachte viele Stunden in den Volksbibliotheken von Oakland und Berkeley und erwarb die Mitgliedschaft für sich, seine beiden Schwestern Gertrude und Marian sowie für Jim, dessen Einwilligung er jedoch erst nach verschiedenen Gläsern Bier erlangte. Und auf alle vier Karten brachte er Bücher mit heim und brannte bis spät in die Nacht hinein in seinem Stübchen Gas, wofür Bernard Higginbotham ihm fünfzig Cent wöchentlich extra ankreidete.
Aber die vielen Bücher, die er las, erhöhten nur seine Unrast. Jede Seite aller dieser Bücher war ein Guckloch ins Reich der Erkenntnis. Sein Hunger nährte sich von dem, was er las, und wuchs nur noch an. Dazu wußte er nicht, wo beginnen, und litt beständig unter seiner mangelhaften Vorbildung. Die gewöhnlichsten Hinweise, die zu verstehen man von jedem Leser erwartete, wie er deutlich sah, waren ihm unbekannt. Und dasselbe galt auch von den Gedichten, die er las, und die ihn toll vor Entzücken machten. Er las mehr von Swinburne, als der Band enthielt, den Ruth ihm geliehen hatte, und ›Dolores‹ verstand er völlig. Ruth aber, meinte er, könnte es unmöglich verstehen. Wie sollte sie auch, sie, dieses verfeinerte, wohlbehütete junge Mädchen? Dann erwischte er einen Band Gedichte von Kipling und wurde völlig hingerissen von dem Rhythmus, dem Schwung und dem Glanz, den der Dichter alltäglichen Dingen verlieh. Er war erstaunt über die Lebensfreude und die scharfe Psychologie dieses Mannes. Psychologie war ein neues Wort in Martins Wortschatz. Er hatte sich ein Wörterbuch gekauft, was seinen Geldbeutel stark angegriffen und den Tag seiner Abfahrt nähergerückt hatte. Bernard Higginbotham war darüber erbost, da er es lieber gesehen hätte, wenn das Geld in Kost und Logis umgesetzt worden wäre.
Am Tage wagte er sich nicht in die Gegend, wo Ruth wohnte, abends aber schlich er wie ein Dieb um das Haus der Familie Morse, warf verstohlene Blicke zu den Fenstern hinauf und liebte selbst die Mauern, die SIE schützten. Einige Male wäre er beinahe von ihren Brüdern entdeckt worden, und einmal folgte er ihrem Vater bis in die Stadt, studierte dessen Gesicht im Schein der Straßenlaternen und wünschte sich, daß er überraschend in irgendeine Todesgefahr geriete, so daß er hinzuspringen und ihn retten könnte. Wieder an einem Abend wurde seine Ausdauer dadurch belohnt, daß er an einem Fenster im zweiten Stock einen Schimmer von Ruth erblickte. Er sah nur ihren Kopf, ihre Schultern und die Arme, die sie hob, um ihr Haar vor einem Spiegel zu ordnen. Es dauerte nur einen Augenblick. Aber ihm schien es eine Ewigkeit, in der sein Blut zu Wein wurde und singend durch seine Adern brauste. Dann ließ sie die Gardine herab. Aber nun wußte er, welches ihr Zimmer war, und von jetzt an stand er oft hier auf der andern Seite der Straße im Schatten eines Baumes und rauchte unzählige Zigaretten. Eines Nachmittags sah er ihre Mutter aus einer Bank kommen, und das machte ihm von neuem den ungeheuren Abstand klar, der Ruth von ihm schied.
Sie gehörte der Klasse an, die mit Banken zu tun hatte. Er war in seinem ganzen Leben noch nie in einer Bank gewesen und stellte sich vor, daß diese Institute nur die ganz Reichen und Mächtigen besuchten.
In gewisser Weise war eine moralische Umwälzung in ihm vorgegangen. Ihre körperliche und geistige Reinheit hatte ihre Wirkung auf ihn ausgeübt, und er fühlte einen heißen Drang, selbst rein zu sein. Er mußte es sein, wenn er je würdig werden wollte, dieselbe Luft wie sie zu atmen. Er putzte sich die Zähne und schrubbte sich die Hände mit einer Scheuerbürste, bis er einmal im Schaufenster eines Drogisten eine Nagelbürste sah und ihren Zweck erriet. Er ging hinein, kaufte sie, und der Kommis, der seine Nägel sah, empfahl ihm auch eine Nagelfeile. So wurde er Besitzer eines weiteren Toilettengegenstandes. Zufällig stieß er in der Bibliothek auf ein Buch über Körperpflege, und sofort entwickelte sich bei ihm eine Neigung für ein tägliches kaltes Morgenbad, zum großen Erstaunen Jims und zum Ärger Bernard Higginbothams, der für derartige vornehme Übergeschnapptheiten nichts übrig hatte und ernsthaft überlegte, ob er Martin nicht für das Wasser extra zahlen lassen sollte. Ein weiterer Fortschritt waren Bügelfalten in seinen Hosen. Nun, da Martins Interesse für derartige Dinge einmal geweckt war, bemerkte er schnell den Unterschied zwischen den ausgebeutelten Knien in den Hosen der arbeitenden Klasse und der geraden Linie vom Knie bis zum Fuß, die er bei Männern besserer Herkunft sah. Er lernte auch, wie man dazu kam, und drang in die Küche seiner Schwester ein, um Bügeleisen und Plättbrett zu finden. Das erstemal hatte er Pech und versengte eine Hose so hoffnungslos, daß er sich eine neue kaufen mußte – eine Ausgabe, die wiederum den Tag seiner Abreise näherrückte.
Aber die Veränderung seiner Persönlichkeit beschränkte sich nicht nur auf seine äußere Erscheinung. Zwar rauchte er immer noch, aber er trank nicht mehr. Bisher hatte er Trinken für eine sehr angemessene Beschäftigung für Männer gehalten und war stolz auf seine starke Konstitution gewesen, die ihn befähigt hatte, die meisten Männer unter den Tisch zu trinken. Sooft er einen alten Schiffskameraden traf – und es gab viele in San Franzisko –, lud er ihn wie in alten Tagen ein und wurde wieder eingeladen, aber er bestellte für sich nur Ingwer- oder Kräuterbier und ließ sich alle Neckereien gutmütig gefallen. Und wenn sie dann allmählich betrunken wurden, beobachtete er sie und sah, wie das Tier in ihnen erwachte und sie übermannte, und er dankte Gott, daß er jetzt anders war als sie. Sie mußten ihre Grenzen vergessen, und wenn sie berauscht waren, wurden ihre trüben, stumpfen Geister Göttern gleich, und jeder einzelne herrschte in dem Himmel seiner berauschten Wünsche. Martins Drang nach starken Getränken war verschwunden. Er war auf eine neue und tiefere Art berauscht – berauscht von Ruth, die die Flamme der Liebe in ihm entzündet und ihm einen Funken höheren, ewigen Lebens gezeigt hatte; berauscht von Büchern, die ein Ameisenkribbeln von Sehnen und Verlangen in seinem Hirn geweckt hatten; berauscht von dem Gefühl persönlicher Reinheit, die er erstrebte, die ihn noch gesunder und kräftiger machte, als er früher gewesen war, und die seinen ganzen Körper mit einem Gefühl physischen Wohlbehagens erfüllte.
Eines Abends ging er in der vagen Hoffnung, sie vielleicht zu sehen, ins Theater, und von der Galerie aus sah er sie auch wirklich. Er sah sie durch den Mittelweg gehen mit Arthur und einem fremden jungen Mann mit mächtigem Haarbusch und einer Brille, dessen Anblick augenblicklich Argwohn und Eifersucht in ihm weckte. Er sah, wie sie ihren Orchesterplatz einnahm, und viel mehr sah er an diesem Abend nicht – nur undeutlich, aus der Ferne, ihre feinen weißen Schultern und einen Schwall blaßgoldenen Haares. Aber andere hatten auch Augen, und jedesmal, wenn er den Blick über die Umsitzenden