Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London
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Schließlich fand er den Türgriff und betrat ein erleuchtetes Zimmer, in dem seine Schwester und Bernard Higginbotham saßen. Sie war dabei, ein Paar alte Hosen ihres Mannes zu flicken, und er rekelte seinen mageren Körper auf einem Stuhl, während seine Füße in ganz ausgetretenen Filzpantoffeln von einem zweiten Stuhl herunterbaumelten. Mit dunklen, unehrlichen, stechenden Augen blickte er über den Rand seiner Zeitung hinweg. Martin Eden konnte ihn nie ansehen, ohne daß ihn ein Gefühl des Widerwillens überkam. Was seine Schwester in diesem Manne gesehen hatte, ging über seinen Verstand. Auf ihn wirkte er stets wie ein giftiges Gewürm, und er fühlte immer die Versuchung, ihn unter seinem Absatz zu zertreten. Eines schönen Tages schlage ich ihm doch in die Fresse, sagte er sich oft, um sich darüber zu trösten, daß er die Existenz dieses Mannes dulden mußte. Die wieselartigen, grausamen Augen sahen ihn vorwurfsvoll an.
»Na?« sagte Martin. »Heraus damit!«
»Ich hab erst vorige Woche die Tür streichen lassen«, erklärte Bernard Higginbotham in halb jammerndem, halb keifendem Ton, »und du weißt, wie hoch der Gewerkschaftstarif ist. Du solltest besser achtgeben.«
Martin wollte antworten, sah dann aber ein, daß es zwecklos war. Sein Blick glitt über die unsagbare Gemeinheit dieses Menschen hinweg auf einen Farbendruck an der Wand. Er wunderte sich. Bisher hatte er ihm stets gefallen, jetzt aber schien ihm, als sähe er ihn zum erstenmal. Er war billig, das war es – billig, wie alles andere in diesem Hause. Seine Gedanken kehrten zu dem Heim zurück, das er soeben verlassen hatte, und er sah zuerst die Gemälde und dann sie, die ihn mit zarter Sanftmut angeblickt hatte, als sie ihm die Hand zum Abschied drückte. Er vergaß ganz, wo er war, ja, er vergaß die Existenz Bernard Higginbothams, bis dieser Herr fragte: »Du hast wohl einen Geist gesehen?«
Martin trat auf ihn zu und sah ihm in die kleinen, höhnischen, bösartigen, feigen Augen, und in seiner Vorstellung sah er wie auf einer Leinwand dieselben Augen, wenn ihr Besitzer unten im Laden stand und handelte – unterwürfig, schmeichelnd, voll öliger Liebenswürdigkeit.
»Ja«, antwortete Martin, »ich habe einen Geist gesehen. Gute Nacht. Gute Nacht, Gertrude.«
Er wandte sich zum Gehen, strauchelte aber über einen Riß in dem verschlissenen Teppich.
»Schmeiß nicht die Tür zu«, warnte ihn Herr Higginbotham.
Martin Eden fühlte das Blut in seinen Adern kochen, aber er bezwang sich und schloß vorsichtig die Tür hinter sich.
Herr Higginbotham sah seine Frau triumphierend an.
»Er ist betrunken«, erklärte er heiser flüsternd. »Ich habe es dir ja gesagt.«
Sie nickte resigniert.
»Seine Augen glänzten so«, gab sie zu. »Und er hatte keinen Kragen um, obgleich er mit Kragen weggegangen ist. Aber vielleicht hat er nur ein paar Glas getrunken.«
»Er konnte ja nicht auf den Beinen stehen«, versicherte ihr Mann. »Ich hab ihn beobachtet. Er konnte nicht über den Fußboden gehen, ohne zu stolpern. Du hast ja selbst gehört, daß er auf dem Vorplatz beinahe fiel.«
»Ich glaube, er stolperte über Alices Wagen«, sagte sie. »Er konnte ihn im Dunkeln nicht sehen.«
Bernard Higginbothams Zorn wuchs, und seine Stimme hob sich. Den ganzen Tag im Laden hielt er sich zurück, abends aber, wenn er mit seiner Familie zusammen war, behielt er sich das Recht vor, er selbst zu sein.
»Ich sage dir, dein Prachtkerl von Bruder war besoffen.«
Seine Stimme klang kalt, scharf und gebieterisch, und die Lippen prägten jedes Wort so hart wie eine Stanzmaschine. Seine Frau seufzte und schwieg. Sie war groß und stark, stets nachlässig gekleidet und stets müde von den Lasten, die sie zu tragen hatte: ihren Schwangerschaften, ihrer Arbeit und ihrem Mann.
»Das steckt in ihm, sage ich dir, er hat es von seinem Vater«, fuhr Bernard Higginbotham vorwurfsvoll fort. »Und er wird in der Gosse enden wie der. Das weißt du auch.«
Sie nickte, seufzte und nähte weiter. Sie waren sich einig, daß Martin betrunken heimgekommen war. Ihre Seelen hatten kein Gefühl für Schönheit, sonst hätten sie gewußt, daß die strahlenden Augen und das glühende Gesicht von der ersten Liebe des jungen Mannes erzählten.
»Er gibt den Kindern ein schönes Beispiel!« fauchte Herr Higginbotham plötzlich und unterbrach damit die Pause, die seine Frau verschuldet hatte und die ihn ärgerte. Zuweilen wünschte er fast, daß sie ihm mehr widersprechen würde. »Wenn das noch einmal vorkommt, dann muß er raus, verstehst du! Ich dulde die Sauferei nicht. Er verdirbt nur die unschuldigen Kinder mit seinen Ausschweifungen!« Der Ausdruck gefiel Herrn Higginbotham, er war neu in seinem Wortschatz und erst kürzlich aus einem Zeitungsartikel aufgelesen. »Das ist es, Ausschweifungen – man kann es nicht anders nennen.«
Aber seine Frau seufzte immer noch, schüttelte traurig den Kopf und nähte weiter. Herr Higginbotham machte sich wieder an seine Zeitung.
»Hat er Kostgeld und Miete für die letzte Woche bezahlt?« fragte er über den Rand seiner Zeitung hinweg. Sie nickte und fügte dann hinzu: »Er hat noch etwas Geld.«
»Wann geht er wieder zur See?«
»Wenn seine Heuer verbraucht ist, denke ich«, antwortete sie. »Er war gestern in San Franzisko, um sich nach einem Schiff umzusehen. Aber er hat noch Geld, und er ist wählerisch darin, auf welchem Schiff er anmustert.«
»Das steht einem solchen Rumtreiber an, vornehm zu tun!« schnaufte Herr Higginbotham verächtlich. »Wählerisch! So einer!«
»Er sprach von einem Schoner, der klargemacht würde, um irgendwohin ins Ausland zu fahren und nach vergrabenen Schätzen zu suchen, und daß er mit dem segeln wollte, wenn sein Geld so lange reichte.«
»Wenn er nur mal Ruhe geben würde, dann könnte ich ihn als Kutscher gebrauchen«, sagte ihr Mann, doch ohne eine Spur von Wohlwollen im Ton. »Tom ist gegangen.« Seine Frau sah ihn besorgt und fragend an.
»Ist heute abend gegangen. Wird für Carruthers arbeiten. Sie bezahlen ihm mehr, als ich geben kann.«
»Ich sagte dir ja, daß du ihn nicht behalten würdest«, rief sie. »Er war mehr wert, als du ihm gabst.«
»Nun hör mal, Alte«, polterte Higginbotham. »Zum tausendstenmal sage ich dir jetzt, daß du dich nicht in meine Geschäfte mischen sollst. Jetzt sag ich’s dir zum letztenmal.«
»Das ist mir einerlei«, weinte sie. »Tom war ein braver Junge.«
Ihr Mann sah sie wütend an. Das war ungebührlicher Trotz.
»Wenn dein Lümmel von Bruder auch nur das geringste taugen würde, dann könnte er den Wagen fahren«, schnob er sie an.
»Er bezahlt aber doch Kost und Logis«, lautete die Antwort. »Und er ist mein Bruder, und solange er dir kein Geld schuldet, hast du kein Recht, ihn bei jeder Gelegenheit zu beschimpfen. Ich hab doch auch Gefühl im Leibe, wenn ich auch sieben Jahre mit dir verheiratet bin.«
»Hast du ihm auch gesagt, daß du was extra für Gas verlangst, wenn er noch weiter abends im Bett liest?« fragte er.
Frau Higginbotham antwortete nicht. Ihre