Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London

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Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe - Jack London

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merkte sich aber diesen Mangel in seinem Wissen und fragte weiter:

      »Wie lange müßte ich lernen, um auf die Universität kommen zu können?«

      Sie lächelte ermutigend über seinen Lerneifer und sagte: »Das hängt davon ab, was Sie schon gelernt haben. Sie haben nie ein Gymnasium besucht? Natürlich nicht. Aber haben Sie die Grundschule ganz durchgemacht?«

      »Es fehlten noch zwei Jahre, als ich abging«, erwiderte er. »Aber ich war immer sehr gut in der Schule.«

      Im nächsten Augenblick ärgerte er sich über seine Prahlerei und packte die Stuhllehnen so wütend, daß seine Fingerspitzen förmlich brannten. Da bemerkte er, daß eine Frau ins Zimmer trat. Er sah, wie das Mädchen vom Stuhl aufstand und der Eintretenden entgegeneilte. Sie küßten sich und kamen dann Arm in Arm auf ihn zu. Das muß ihre Mutter sein, dachte er. Sie war eine hochgewachsene blonde Frau, schlank, stattlich und schön. Ihre Kleidung war so, wie er sie in einem solchen Hause erwarten durfte. Seine Augen hingen mit Entzücken an den anmutigen Linien. Sie erinnerte ihn an Frauen, die er auf der Bühne gesehen hatte. Dann entsann er sich, daß er ähnlich gekleidete vornehme Damen in die Londoner Theater hatte hineingehen sehen, während er dastand und schaute, bis der Schutzmann ihn vor das Schutzdach in den Sprühregen geschoben hatte. Gleich darauf machten seine Gedanken einen Sprung nach dem Grand Hotel in Yokohama, wo er auch von der Straße aus große Damen gesehen hatte. Dann begann Yokohama selbst mit seinem Hafen blitzschnell in tausend Bildern vor seinen Augen vorüberzuziehen. Aber er löste sich rasch von diesem Kaleidoskop der Erinnerung, in dem Bewußtsein, daß er jetzt seine ganze Geistesgegenwart nötig hatte. Er wußte, daß er aufstehen mußte, um vorgestellt zu werden, und so erhob er sich denn mühsam. Er stand da, mit Hosen, die sich an den Knien beutelten, und komisch hängenden Armen, und war mit zusammengebissenen Zähnen bereit, die bevorstehende Prüfung über sich ergehen zu lassen.

      Zweites Kapitel

      Der Weg ins Speisezimmer war ein Alpdruck für ihn. Er stolperte und zauderte, machte einen Ruck vorwärts und schwankte dann wieder, so daß es zuweilen schien, als würde er nie hineingelangen. Schließlich aber hatte er es geschafft und wurde neben SIE gesetzt. Die Fülle der Messer und Gabeln jagte ihm Schrecken ein. Sie drohten mit unbekannten Gefahren, und er starrte sie gebannt an, bis ihr Glanz der Hintergrund für eine Reihe von Bildern aus der Back wurde, wo er und seine Kameraden saßen und Salzfleisch mit dem Taschenmesser und den Fingern aßen oder dicke Erbsensuppe mit verbogenen Blechlöffeln aus der Pfanne kratzten. Er konnte geradezu den Geruch von verdorbenem Fleisch spüren und das Schmatzen der Essenden beim Knarren der Spanten und dem Ächzen der Schotts hören. Er sah die Kameraden essen und kam zu dem Ergebnis, daß sie wie Schweine aßen. Nun, er wollte sich hier schon zusammennehmen. Er wollte kein Geräusch machen. Er wollte ständig darauf achten.

      Er ließ seinen Blick über den Tisch schweifen. Ihm gegenüber saßen Arthur und Arthurs Bruder Norman. Er dachte daran, daß es ihre Brüder waren, und fühlte warme Freundschaft für sie. Wie alle in dieser Familie sich liebten! Er sah es wieder vor sich, wie ihre Mutter erschien, wie sich die beiden zur Begrüßung küßten und dann Arm in Arm zu ihm traten. In seiner Welt zeigten Eltern und Kinder ihre Gefühle nicht so. Es war eine Offenbarung von den Höhen des Lebens, die man in der oberen Gesellschaft erreichen konnte. Es war das Schönste, was er bisher bei diesem kleinen Einblick in eine neue Welt gesehen hatte. Es machte tiefen Eindruck auf ihn, und sein Herz strömte über vor mitfühlender Zärtlichkeit. Sein ganzes Leben lang hatte er nach Liebe gehungert. Seine Natur verlangte Liebe. Sie war eine organische Forderung seines Wesens. Doch er hatte sie entbehren müssen und war hart dabei geworden. Er hatte selbst nicht gewußt, daß er Liebe brauchte, und auch jetzt wußte er es nicht. Er sah nur ihr Wirken, und das durchschauerte ihn tief und erschien ihm edel, herrlich und erhaben.

      Er freute sich, daß Herr Morse nicht anwesend war. Es war schwierig genug, ihr, ihrer Mutter und ihrem Bruder Norman näherzukommen. Arthur kannte er schon ein wenig. Dem Vater, das wußte er, wäre er nicht mehr gewachsen. Ihm schien, daß er sich noch nie im Leben so abgemüht hätte. Die schwerste Arbeit war Kinderspiel dagegen. Winzige Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn, und auch sein Hemd war feucht von der Anstrengung, soviel Ungewohntes auf einmal zu tun. Er mußte essen, wie er noch nie gegessen hatte, mußte mit seltsamen Geräten hantieren und dabei verstohlene Blicke auf die anderen werfen, um zu sehen, wie sie mit jedem neuen Ding umgingen; er mußte die Flut von Eindrücken bewältigen, die auf ihn zuströmten und in seinem Bewußtsein gesichtet und geklärt werden wollten. Dazu fühlte er eine heftige Sehnsucht nach ihr, eine Sehnsucht, die ihn als dumpf nagende Rastlosigkeit quälte, und spürte das stachelnde Verlangen, sich emporzuschwingen zu der Höhe des Lebens, auf der sie dahinschritt. Immer wieder verlor sich sein Geist in Grübelei und unklaren Plänen, wie er diese Höhe erreichen könnte. Wenn sein Blick heimlich zu Norman glitt, der ihm genau gegenüber saß, oder zu den anderen, um herauszubekommen, welches Messer oder welche Gabel gerade in diesem Fall benutzt wurde, so nahm noch dazu das Gesicht des Betreffenden seine Gedanken in Anspruch, und er versuchte unwillkürlich, die Personen einzuschätzen und zu erraten, was sie – stets im Verhältnis zu IHR – bedeuteten.

      Dann wieder mußte er sprechen, hören, was man zu ihm sagte und was die anderen unter sich sprachen, und, wenn nötig, antworten, mit einer Zunge, die die unangenehme Neigung hatte, durchzugehen, und stets gezügelt werden mußte. Und um seine Verwirrung noch zu vermehren, war der Diener da, eine beständige Drohung, die lautlos an seiner Schulter auftauchte, eine unheimliche Sphinx, die ihm Rätsel und Vexierfragen vorlegte, die er stets sofort lösen mußte. Während der ganzen Mahlzeit bedrückte ihn der Gedanke an die Fingerschalen. Beharrlich, immer wieder abschweifend, fragte er sich, wann sie in Erscheinung treten und wie sie aussehen würden. Er hatte von diesen Dingern gehört und wußte, daß er sie im Laufe weniger Minuten sehen würde, da er mit höheren Wesen bei Tische saß und sie wie diese benutzen sollte. Und das Wichtigste vor allem: auf dem Grunde seiner Gedanken und doch stets dicht an der Oberfläche lag die große Frage, wie er sich diesen Leuten gegenüber benehmen sollte. Welche Haltung sollte er einnehmen? Mit diesem Problem kämpfte er andauernd und sorgenvoll. Da waren feige Einflüsterungen, die ihn veranlassen wollten, Komödie zu spielen, und noch feigere, die ihn warnten, daß er bei einem solchen Versuch scheitern müßte, daß seine Natur sich nicht dazu eignete und daß er sich zum Narren machen würde.

      Während des ersten Teils des Essens, als er mit sich rang, wozu er sich entscheiden sollte, war er sehr still. Er wußte nicht, daß er durch sein Schweigen Arthur Lügen strafte, der am Tag zuvor angekündigt hatte, er würde einen Wilden mit zu Tisch bringen, sie brauchten aber keine Angst zu haben, denn sie würden feststellen, es sei ein interessanter Wilder. Martin Eden hätte gerade jetzt nicht an die Möglichkeit geglaubt, daß IHR Bruder sich eines solchen Verrats schuldig machen könnte, zumal er ja eben diesem Bruder aus einer schlimmen Prügelei geholfen hatte. Und so saß er denn bei Tisch, bedrückt durch seine eigene Unwürdigkeit und doch zugleich von allem, was um ihn her vorging, bezaubert. Zum erstenmal erkannte er, daß Essen etwas anderes als eine nützliche Funktion war. Er hatte keine Ahnung, was er aß. Es war eben Essen. Er stillte seinen Schönheitsdurst an diesem Tisch, wo Essen eine ästhetische Funktion war. Aber es bedeutete auch eine intellektuelle Funktion. Sein Geist war angeregt. Er hörte Worte, deren Sinn er nicht verstand, und andere Worte, die er nur in Büchern gefunden hatte und die weder Männer noch Frauen seiner Bekanntschaft imstande gewesen wären auszusprechen. Wenn er solche Worte von den Lippen dieser wundervollen Familie – IHRER Familie – aussprechen hörte, als ob es das Natürlichste von der Welt wäre, wurde er von Entzücken durchbebt. Die Romantik und Schönheit, das Erhabene, von dem er in Büchern gelesen hatte, wurden hier wahr. Er befand sich in dem seltsamen, seligen Zustand, in dem ein Mann seinen Traum aus den Winkeln der Phantasie herausspazieren und Wirklichkeit werden sieht.

      Noch nie hatte er auf solchen Höhen des Lebens gestanden, und er hielt sich selbst im Hintergrund, lauschend, beobachtend und glücklich, während er einsilbig »Ja, Miß« und »Nein, Ma’am« erwiderte. Er unterdrückte

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