Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London
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»Wie gesagt – ja, was sagte ich doch?« Sie unterbrach sich plötzlich und lachte heiter über ihre eigene Verlegenheit.
»Sie sagten, daß dieser Mann, der Swinburne, kein großer Dichter wurde, weil… so weit waren Sie gekommen, Fräulein«, half er ihr, während ihm schien, als ob er plötzlich hungrig würde und ein wundervolles leises Zittern ihm bei ihrem Lachen das Rückgrat entlang kroch. Wie Silber, dachte er, wie klingende, silberne Glocken, und im selben Augenblick, aber nur eine Sekunde lang, fühlte er sich in ein fernes Land versetzt, wo er unter rosa Kirschblüten saß, eine Zigarette rauchte und auf die Glocken der spitzen Pagode lauschte, die Gläubige mit Strohsandalen zur Andacht riefen.
»Ja, danke«, sagte sie. »Das Höchste erreicht Swinburne nicht, weil er – nun ja, weil er unzart ist. Viele seiner Gedichte sollte man gar nicht lesen. Jede Zeile der wirklich großen Dichter ist von wahrer Schönheit erfüllt und wendet sich an alles, was erhaben und edel im Menschen ist. Von den Werken der großen Dichter könnte man nicht eine Zeile entbehren, ohne daß die Welt dadurch ärmer würde.«
»Ich fand es großartig«, sagte er zögernd, »das bißchen jedenfalls, das ich las. Ich hatte keine Ahnung, daß er so ein – ein Schurke war. Das wird wohl in seinen andern Büchern zum Vorschein kommen.«
»Viele Zeilen in dem Buch, das Sie gelesen haben, hätte er sich sparen können«, sagte sie, und ihre Stimme klang streng und lehrhaft.
»Die muß ich übersehen haben«, erklärte er. »Was ich las, war wirklich gut. Und es war so strahlend und schimmernd, es schien gerade in mich hinein und erleuchtete mich inwendig wie die Sonne oder ein Scheinwerfer. So wirkte es jedenfalls auf mich, aber ich verstehe wohl nicht viel von Dichtkunst, Fräulein.« Er brach verlegen ab. Er war verwirrt, war sich schmerzlich der Unfähigkeit bewußt, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen. Er hatte die große und lebendige Glut in dem, was er las, empfunden, aber er vermochte es nicht wiederzugeben. Er konnte nicht ausdrücken, was er fühlte, und er verglich sich selbst mit einem Seemann, der sich in dunkler Nacht auf einem fremden Schiff mit einer Takelung abquälte, mit der er nicht vertraut war. Nun ja, sagte er sich, es ist meine Sache, mich in dieser neuen Welt zurechtzufinden. Er war noch nie auf etwas gestoßen, mit dem er nicht fertig geworden war, wenn er es ernstlich darauf angelegt hatte, und es war Zeit, daß er lernte, das, was in seinem Innern vorging, so auszusprechen, daß sie ihn verstand. Sie erweiterte seinen Horizont mächtig.
»Longfellow zum Beispiel – «, sagte sie.
»Ja, den habe ich gelesen«, unterbrach er sie, angespornt von dem Ehrgeiz, soviel wie möglich von seinem wenigen Bücherwissen zu zeigen, und eifrig bemüht, ihr zu beweisen, daß er kein ganz geistloser Tölpel war. ›»Der Psalm des Lebens‹, ›Excelsior‹ und… ich glaube, das ist alles.«
Sie nickte lächelnd, und er hatte das Gefühl, daß ihr Lächeln etwas nachsichtig war – mitleidig nachsichtig. Er war ein Narr, daß er versuchte, sich auf diese Weise aufzuspielen. Dieser Longfellow hatte wahrscheinlich zahllose Gedichtbände geschrieben. »Entschuldigen Sie, Fräulein, daß ich so drauflos schwatze. Ich weiß ja eigentlich nicht viel von diesen Sachen. Es gehört nicht zu meinem Beruf. Aber ich will es zu meinem Beruf machen.«
Das klang wie eine Drohung. Seine Stimme war entschlossen, seine Augen blitzten, die Linien in seinem Gesicht wurden hart. Ihr schien, als ob sein Kinn sich verändert hätte; es wirkte fast unangenehm streitbar. Gleichzeitig aber war es, als ob ihr eine Woge kraftvoller Männlichkeit von ihm entgegenschlug.
»Ich glaube wirklich, Sie können es zu Ihrem… Beruf machen«, schloß sie lachend. »Sie sind sehr stark.«
Ihr Blick weilte einen Augenblick auf dem muskulösen, sehnigen, fast stierhaften Nacken, der von der Sonne gebräunt war und von rauher Kraft und Gesundheit strotzte. Und obwohl er rot und verlegen dasaß, fühlte sie sich wieder zu ihm hingezogen. Zu ihrer eigenen Überraschung schoß ihr ein toller Gedanke durchs Hirn. Ihr schien, sie müsse ihre beiden Arme um seinen Hals legen, und all seine Stärke und Kraft würden auf sie überströmen. Dieser Einfall entsetzte sie. Ihr schien, daß sich ihr plötzlich eine ungeahnte Verderbnis ihrer Natur offenbarte. Zudem war Stärke für sie etwas Grobes, Brutales. Ihr Ideal männlicher Schönheit war immer schlanke Anmut gewesen. Aber der Gedanke verließ sie nicht. Es verwirrte sie, daß sie wirklich den Wunsch verspüren sollte, ihre Arme um diesen sonnenverbrannten Hals zu legen. Tatsächlich war sie selbst zart, und das, was ihr Körper und ihre Seele brauchten, war eben Stärke. Aber das wußte sie nicht. Sie wußte nur, daß kein Mann je eine solche Wirkung auf sie ausgeübt hatte wie dieser, der sie jeden Augenblick durch seine scheußliche Sprache erschreckte.
»Ja, ich bin kein Invalide«, sagte er. »Wenn es darauf ankommt, kann ich altes Eisen verdauen. Aber jetzt bin ich ein bißchen überladen. Das meiste von dem, was Sie gesagt haben, kann ich nicht verdauen. Ich habe mich nie mit dem Zeug abgegeben, wissen Sie. Ich habe Bücher und Poesie gern, und wenn ich mal Zeit hatte, habe ich gelesen, aber ich habe nie so darüber nachgedacht wie Sie. Darum kann ich nicht drüber reden. Mir geht es wie einem Seemann, der ohne Karte und Kompaß auf einem fremden Meer treibt. Jetzt möchte ich gern meine Lage peilen. Vielleicht können Sie mir dabei helfen. Wie haben Sie all das gelernt, was Sie da erzählen?«
»In der Schule und durch Studium«, antwortete sie.
»Zur Schule bin ich doch auch gegangen, als ich klein war«, wandte er ein.
»Ja; aber ich meine das Gymnasium und Kurse und die Universität.«
»Sie sind auf der Universität gewesen?« fragte er ehrlich bestürzt. Er hatte das Gefühl, daß sie ihm um mindestens eine Million Meilen ferner gerückt war.
»Ich