Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London
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Und während er sprach, sah das junge Mädchen ihn mit großen, erschrockenen Augen an. Sein Feuer durchglühte sie. Sie fragte sich, ob sie wohl ihr ganzes Leben gefroren hätte. Sie sehnte sich danach, sich an diesen brennenden, flammenden Mann zu lehnen, der wie ein Vulkan Stärke und Gesundheit ausspie. Sie fühlte, daß sie sich an ihn lehnen mußte, und widerstand der Versuchung nur mit Mühe. Aber sie empfand auch den entgegengesetzten Impuls: sie schauderte vor ihm zurück. Sie wurde abgestoßen durch diese zerschundenen Hände, die so von Arbeit verfärbt waren, als sei der Schmutz des Lebens bis in das Fleisch gedrungen, durch den roten Streifen vom Kragen und die schwellenden Muskeln. Seine Rauheit erschreckte sie. Jedes grobe Wort beleidigte ihr Ohr, jedes rohe Erlebnis war ein Hohn auf ihre Seele. Aber immer wieder fühlte sie, wie er sie anzog, bis ihr schien, daß er schlecht sein müßte, da er eine solche Macht über sie hatte. Alles, was am tiefsten in ihr wurzelte, geriet ins Wanken. Der Zauber von Romantik und Abenteuer, der über ihm lag, war ein Angriff gegen alles Herkömmliche. Seinen leicht besiegten Gefahren und seinem stets bereiten Lachen gegenüber war das Leben nicht mehr etwas Ernstes voll Mühe und Zwang, sondern ein Spielzeug, das man nach Belieben drehen und wenden, das man sorglos und freudig leben und lässig beiseite werfen konnte. Deshalb spiele! rief es in ihr. Lehne dich an ihn, wenn du Lust dazu hast, und lege ihm deine Arme um den Hals! Sie hätte gern diesen wilden Gedanken verbannt, und sie suchte vergebens, ihre eigene Reinheit und Kultur, alles, was sie war, in die Waagschale zu werfen gegen das, was er nicht war. Sie sah auf die andern und bemerkte, daß sie ihn aufmerksam und hingerissen anblickten, und sie würde ganz den Mut verloren haben, hätte sie nicht den Schrecken in den Augen ihrer Mutter gesehen – die wohl auch gebannt war, aber dennoch zurückschauderte. Dieser Mann aus der äußersten Finsternis war schlecht. Ihre Mutter sah es, und ihre Mutter hatte recht. Sie wollte sich in dieser Sache wie immer auf das Urteil ihrer Mutter verlassen. Das Feuer, das aus ihm loderte, wärmte nicht mehr, ihre Angst vor ihm war nicht mehr so stark.
Später setzte sie sich an den Flügel und spielte für ihn und gegen ihn, aggressiv, mit dem unklaren Ziel, die unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen zu betonen. Ihre Musik war eine Keule, die sie brutal über seinem Haupte schwang, aber wenn sie ihn auch betäubte und in den Staub warf; so wirkte sie doch anspornend auf ihn. Er starrte sie ehrfürchtig an. Für ihn wie für sie erweiterte sich die Kluft zwischen ihnen; aber noch fester wurde sein ehrgeiziger Entschluß, diese Kluft zu überspringen. Jedoch wurde er von einem zu vielfältigen Komplex von Empfindungen bewegt, als daß er den ganzen Abend hätte ruhig dasitzen und in einen klaffenden Abgrund starren können, namentlich wenn musiziert wurde. Er war merkwürdig empfänglich für Musik. Sie war wie ein feuriger Trank, der seine Gefühle zu ungewohnter Kühnheit anspornte, wie ein Rausch, der seine Phantasie ergriff und sie bis in die Wolken hob. Musik verjagte die schmutzige Wirklichkeit, erfüllte sein Gemüt mit Schönheit, ließ die Romantik frei und gab ihr Schwingen. Er verstand die Musik nicht, die sie spielte. Sie war ganz anders als die Musik, die er kannte: das hämmernde Klavier und die lärmenden Blechkapellen in den Tanzlokalen. Aber er hätte durch die Bücher eine Vorstellung von dieser Art Musik, und er nahm ihr Spiel gläubig auf, wartete anfangs geduldig auf die hüpfenden Takte eines bestimmten einfachen Rhythmus und wurde ganz verwirrt, weil diese Maße so oft wechselten. Gerade wenn er ihre Melodie erfaßt hatte und seine Phantasie harmonisch zum Flug ansetzte, verschwanden sie immer wieder in einem wirren Chaos von Tönen, die ihm nichts bedeuteten, und seine Phantasie stürzte schwer zur Erde zurück.
Plötzlich fiel ihm ein, daß dies ein bewußter Versuch sein mochte, ihn zurückzuweisen. Er fühlte ihre Abwehr und bemühte sich, die Botschaft zu erraten, die ihre Hände durch die Tasten mitteilten. Dann aber schob er diesen Gedanken als unwürdig und unmöglich von sich und überließ sich freier der Musik. Wieder überkam ihn das alte Entzücken. Seine Füße waren nicht mehr erdgebunden, sein Fleisch wurde Geist. Vor und hinter seinem Blick entzündete sich ein mächtiger Strahlenkranz. Er vergaß seine Umgebung und erhob sich im Fluge über eine Welt, die ihm so teuer war. In den Traumbildern, die seiner inneren Schau zuströmten, mischte sich Bekanntes mit Unbekanntem. Er erreichte fremde Häfen in sonnigen Ländern und betrat Marktplätze barbarischer Völker, die kein Mensch je gesehen hatte. Er konnte den Duft der Gewürzinseln spüren, wie er ihn in warmen, stillen Nächten auf See gespürt hatte, er kreuzte gegen den Südostpassat der langen Tropentage, den Passat, der die Palmenwedel der Koralleninseln in das türkisblaue Meer hinter ihm versinken und wieder auftauchen ließ. Diese Bilder kamen und schwanden mit der Schnelligkeit eines Gedankens. In einem Augenblick saß er rittlings auf einem Präriehengst und flog durch das bunte Wüstenland mit seinen Märchenfarben; im nächsten starrte er durch Hitzeflimmer in die bleiche Gruft des Totentals oder ruderte über ein halb zugefrorenes Weltmeer, aus dem sich große Eisinseln hoben und in der Sonne glitzerten. Er lag am Ufer einer Koralleninsel, deren Kokospalmen bis zu der sanftrauschenden Brandung hinunterwuchsen. Auf dem Rumpf eines alten Wracks brannten blaue Flammen, und in ihrem Schimmer tanzten die Hulatänzer zu den fremdartigen Liebesrufen der Sänger, den klimpernden Ukuleles und rasselnden Tom-Toms. Es war eine sinnenerregende tropische Nacht. Im Hintergrund hob sich die dunkle Silhouette eines vulkanischen Kraters vom Sternenhimmel ab. Am Himmel stand ein blasser Halbmond, und tief am Horizont flammte das Kreuz des Südens.
Er war wie eine Harfe; alles Leben, das er bisher gekannt hatte und das sein Bewußtsein bildete, stellte die Saiten der Harfe dar, und die Flut der Musik war der Wind, der gegen die Saiten schlug und sie unter Erinnerungen und Träumen schwingen ließ. Er fühlte nicht nur. Seine Empfindung nahm Form, Farbe und Leuchtkraft an und verkörperte auf erhabene, zauberische Weise, was seine Phantasie wagte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden eins, und er wanderte beschwingt durch die weite, glühende Welt, durch Abenteuer und edle Taten, hin zu ihr – ja, und zusammen mit ihr, die er gewinnen wollte; er schlang seinen Arm um sie und trug sie im Fluge durch das Königreich seines Geistes.
Und als sie ihm über die Schulter hinweg einen verstohlenen Blick zuwarf, sah sie etwas von alledem in seinem Gesicht. Es war ein verklärtes Gesicht mit großen, glänzenden Augen, die durch den Schleier der Töne blickten und dahinter den klopfenden Pulsschlag des Lebens und die mächtigen Phantome des Geistes sahen. Sie erschrak. Der ungehobelte, verlegene Bursche war verschwunden. Die schlechtsitzende Kleidung, die zerschrammten Hände und das sonnverbrannte Gesicht waren noch da, aber nur wie ein Kerkergitter, durch das sie eine große Seele ausschauen sah, stumm und stammelnd, weil die Lippen unfähig waren, ihr Ausdruck zu verleihen. Sie erblickte das alles nur einen flüchtigen Augenblick; dann sah sie wieder den linkischen Burschen und lachte über ihren wunderlichen Einfall. Aber den Eindruck dieses flüchtigen Bildes konnte sie nicht abschütteln, und als der Zeitpunkt kam, da er sich, stolpernd und unsicher, verabschiedete, lieh sie ihm den Band Swinburne, in dem er geblättert hatte, und einen Band Browning – sie hörte gerade Vorlesungen über Browning. Wie er errötend dastand und seinen Dank stammelte, schien er ihr ein solcher Knabe, daß eine Woge mütterlichen Mitleids in ihr aufwallte. Sie dachte weder an den linkischen Burschen noch an die gefangene Seele oder an den Mann, der sie mit all seiner Männlichkeit angestarrt, der sie entzückt und geängstigt hatte. Sie sah nur einen Knaben, der ihre Hand mit einer Hand drückte, die so arbeitshart war, daß sie sich wie ein Reibeisen anfühlte, und ihr die Haut kratzte, einen Knaben, der stockend hervorstieß:
»Die größte Stunde meines Lebens. Wissen Sie, ich bin so was nicht gewohnt…« Er sah sich hilflos um. »Leute und Häuser wie dies. Das ist mir alles neu, und es gefällt mir.«
»Dann besuchen Sie uns hoffentlich wieder«, antwortete sie, als er ihren Brüdern gute Nacht sagte.
Er setzte die Mütze auf, stürzte verzweifelt zur Tür hinaus und war verschwunden.
»Nun, wie findest du ihn?« fragte Arthur.
»Er ist äußerst interessant – ein frischer Luftzug«, erwiderte sie. »Wie alt ist er?«
»Zwanzig – fast einundzwanzig. Ich fragte ihn