Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo Deutsch
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In Elisawetgrad hatten sich zeitweilig die Mitglieder der damals bekannten revolutionären Gruppe „Kiewer Buntari“ [„Bunt“ bedeutet gleichzeitig Aufstand, Revolte. „Buntari“ wäre also mit Verschwörer, in der Tat „Aufwiegler“ zu übersetzen. Die Organisation stellte sich die Aufgabe, Bauernrevolten zu organisieren.] versammelt; auch ich gehörte jener Organisation an. Viele der Mitglieder waren „illegal“ [Als „Illegale“ werden in der Sprache der russischen Revolutionäre diejenigen bezeichnet, die bereits auf irgendeine Weise den Behörden als Revolutionäre verdächtig sind, und die daher sich unter falschem Namen verbergen. Anmerkungen des Übersetzers.], und auf einige von diesen wurde seit langer Zeit von der Gendarmerie gefahndet, weil ein Verräter namens Gorinowitsch sie angezeigt hatte. Dieser Gorinowitsch war im Jahre 1874 verhaftet worden und schwebte damals in großer Gefahr; er suchte sich zu retten, indem er alles, was er über die Sozialisten wusste, aussagte, und es gelang ihm in der Tat, auf diese Weise sich zu befreien; seine Aussagen hatten sehr vielen geschadet. Es wäre wohl diesem Renegaten ebenso wenig ein Haar gekrümmt worden wie so vielen anderen, wenn er fortan die Kreise der Revolutionäre gemieden hätte. Aber ungefähr zwei Jahre nach seiner Entlassung aus der Haft suchte er von neuem sich in diese Kreise einzuschleichen. Er machte sich an einige unerfahrene junge Leute heran, die natürlich keine Ahnung hatten von der Rolle, die er gespielt, und von diesen erfuhr er, dass die Kiewer Organisation sich in Elisawetgrad befinde; er begab sich also dahin und suchte diejenigen Personen zu ermitteln, die er verraten hatte. Doch wurde er von uns erkannt, und wir mussten natürlich zu dem Schlusse kommen, dass er einen neuen Verrat plane. Da beschloss ich mit noch einem Genossen, ihn umzubringen.
In Elisawetgrad selbst durfte die Tat nicht vollbracht werden, weil die Polizei sonst leicht der Organisation auf die Spur kommen konnte. Wir überredeten daher Gorinowitsch, mit uns nach Odessa zu reisen, wo er die Gesuchten finden würde, und er willigte ein. Der Plan war, dass mein Freund auf einem abgelegenen Platze in Odessa den Verräter niedermachen sollte, worauf wir, um die Leiche unkenntlich zu machen, das Gesicht mit Schwefelsäure übergießen wollten. Es kam jedoch so, dass wir den Bewusstlosen für tot hielten. Furchtbar zugerichtet blieb er am Leben und gab der Polizei Auskunft über das gegen ihn verübte Attentat. Verhaftungen und Untersuchungen folgten auf dem Fuße. Mir gelang es damals, mich zu verbergen. Aber im Herbste des nächsten Jahres wurde ich mit anderen Genossen verhaftet; es handelte sich damals um den bekannten „Tschigirinschen Prozess“. Die Bauern des Kreises Tschigirin im Kiewer Gouvernement wollten bei der Befreiung das ihnen zugeteilte Land nicht in Privatbesitz übernehmen, sondern sie wollten das Gemeindeeigentum am Boden, wie es im Norden bestand. Die Regierung ergriff im Jahre 1875 drakonische Maßregeln: Exekutionen, Dragonaden, Verfolgungen aller Art; die Bauern blieben fest. Die Revolutionäre, unter anderen Stefanowitsch Bochanowski und ich, beschlossen daher, einen Aufstand unter den Tschigirinern zu organisieren. Unsere Pläne scheiterten, wir wurden verhaftet, und es wurde der Tschigirinsche Prozess angezettelt. Ich wurde in Kiew eingekerkert, doch gelang es mir, im Frühjahr 1876 gemeinsam mit Stefanowitsch und Bochanowski zu entfliehen.
Den wegen des Attentats gegen Gorinowitsch Angeklagten wurde der Prozess erst im Dezember 1879 gemacht, zu einer Zeit, wo bereits der rote wie der weiße Terrorismus aufgelodert war. Nach einer ganzen Reihe von Attentaten gegen verschiedene Repräsentanten der Staatsgewalt hatten die Revolutionäre zu jener Zeit ihre ganze Kraft darauf konzentriert, Alexander II. umzubringen.
Zar Alexander II.
Die terroristische Bewegung bekämpfte die Regierung durch Ausnahmegesetze, Kriegsgerichte und Todesurteile, wobei eine große Anzahl von Leuten hingerichtet wurde, die absolut keinen Anteil an jenen Taten hatten. – Einige Tage vor Beginn des Prozesses in Sachen des Attentats gegen Gorinowitsch, nachdem den Angeklagten bereits die Anklage bekannt gemacht worden war, die sie mit relativ gelinden Strafen bedrohte, hatten die Terroristen am 19. November auf der Moskauer Linie einen Zug in die Luft gesprengt, in dem man den Zaren vermutete. Die Regierung beschloss, hierfür an den des Anschlags gegen Gorinowitsch Angeklagten Rache zu nehmen. Von diesen Angeklagten war nur ein einziger direkt an der Tat beteiligt, und alle waren sie bereits zwei oder drei Jahre vor Beginn der terroristischen Bewegung verhaftet worden; sie konnten also unter keinen Umständen für diese Bewegung verantwortlich gemacht werden. Trotzdem wurde beschlossen, durch ein grausames Urteil ein „Exempel zu statuieren“. – Drei der Angeklagten, Drebjasgin, Malinka und Maidanski, wurden zum Tode durch den Strang verurteilt und am 3. Dezember hingerichtet; zwei, Kostjurin und Jankowski, zu Zwangsarbeit verurteilt und der Verräter Krajew freigesprochen.
Hätten mich diese Richter in ihre Gewalt bekommen, mein Schicksal wäre besiegelt gewesen. Ich war jedoch zu Beginn des Jahres 1880 nach dem Auslande geflüchtet und hatte mich bis zur Zeit des beschriebenen Vorgangs in Freiburg in der Schweiz aufgehalten.
Hiernach dürfte es klar sein, welche Stimmung mich bei dem Gedanken an die Auslieferung nach Russland befiel.
* * *
Die Ursache meiner Verhaftung
Die Ursache meiner Verhaftung
In Deutschland, als einem Rechtsstaate, besteht die gesetzliche Bestimmung, kraft deren niemand länger als vierundzwanzig Stunden ohne richterliche Verfügung inhaftiert werden darf. Mir, dem Ausländer gegenüber hielt man sich jedoch nicht so genau hieran gebunden, und es vergingen zwei Tage, bevor ich dem Richter zugeführt wurde. Nachdem der Richter die üblichen Fragen nach Namen, Herkunft und Stand gestellt, erklärte er mir, dass ich als Ausländer, dessen Personalien nicht sofort festgestellt werden können, in Haft bleiben müsse. Ich könnte zwar, fügte er hinzu, gegen diese seine Bestimmung Beschwerde erheben, aber nützen würde mir das nichts. In der Tat wurde meine diesbezügliche Beschwerde abgewiesen.
So war ich denn nach diesem Verhör ebenso klug in Bezug auf die Veranlassung zu meiner Verhaftung wie vorher. Nach wie vor stellte ich die verschiedensten Vermutungen hierüber an. – Die Ungewissheit ist stets ein qualvoller Zustand, aber am meisten haben darunter Gefangene zu leiden. In meiner Lage wurde diese Ungewissheit zur schlimmsten Seelenfolter. – Erst nach drei Tagen, die mir endlos erschienen, wurde ich wieder vor den Untersuchungsrichter geführt. Nachdem abermals die üblichen Personalienfragen erörtert waren, fragte er mich, ob mir die Ursache meiner Inhaftierung bekannt wäre? Als ich dies verneinte, gab er mir folgende Aufklärung:
Einige Tage vor meiner Ankunft aus Basel waren aus demselben Orte zwei Männer eingetroffen, der Schweizer Sozialist G. und der Pole Jablonski; sie waren ebenfalls im „Freiburger Hof“ abgestiegen und hatten ebenfalls in ihren Koffern Bücher mitgebracht. Diese Bücher hatten sie alsdann nach Breslau gesandt unter der Adresse eines Mannes, der einige Tage zuvor auf Grund des Sozialistengesetzes verhaftet worden war. Infolgedessen waren die Postpakete von der Polizei beschlagnahmt und darin sozialistische Broschüren in polnischer Sprache gefunden worden, die in Deutschland verboten waren. Da die Absender als Adresse den „Freiburger Hof“ angegeben hatten, waren die Broschüren nach Freiburg zurückgesandt worden, um gegen die Absender die Untersuchung einzuleiten. Es war daher dem Gasthofe Befehl erteilt worden, im Falle die Genannten oder andere verdächtige Personen aus der Schweiz dort eintreffen sollten, die Polizei zu benachrichtigen. Dies war also die Ursache, dass der Hoteldiener, als er erfuhr, dass ich Bücher im Koffer habe, nach Beratung mit dem Hotelier Anzeige erstattet hatte, worauf die Polizei erschien. Der Agent hatte unter den Büchern eines gefunden, das äußerlich einem von denen ähnlich sah, die sich in den Breslauer Paketen befanden, den „Kalender der Narodnaja Wolja“; zumal er dann bei mir einige Exemplare des „Sozialdemokrat“ fand, lag hinreichender Verdacht vor, der meine Verhaftung veranlasste. Es wurde daher die Anklage erhoben,