Im heiligen Lande. Selma Lagerlöf
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Bo konnte sich im ersten Augenblick gar nicht erklären, was er da sah. Er kannte ja alle die Gesichter. »Ist das nicht Tims Halvor?« fragte er sich. »Ist das nicht Karin Ingmarstochter? Ist das nicht Birger Larsson, den ich oft in der Schmiede an der Landstraße habe stehen und Nägel schmieden sehen?«
Bo war so in seine eigenen Gedanken versunken gewesen, daß es eine Weile währte, bis er begriff, daß dies die Pilgrime von daheim aus Dalarne sein mußten, die ein paar Tage früher, als man sie erwartet hatte, angelangt waren.
Er erhob sich in seinem Boot, winkte mit der Hand und rief: »Guten Tag!« Die stillen Menschen in den Booten sahen auf, einer nach dem andern, und bewegten den Kopf ein wenig, um zu zeigen, daß sie ihn erkannt hatten. Bo begriff, daß er nicht recht getan hatte, indem er sie in diesem Augenblick störte. Es schickte sich nicht für sie, in diesem Moment an irgend etwas anderes zu denken, als an das Feierliche, daß sie jetzt den Fuß auf den Boden von Palästina setzten.
Nie aber hatte Bo etwas Schöneres gesehen, als diese steifen Gesichter. Er wurde so froh, und er wurde so betrübt. »Siehe, solche Menschen haben wir daheim«, dachte er, und er empfand eine solche Sehnsucht, daß er sich gern ins Meer gestürzt hätte, um die Goldstücke wieder herauszufischen.
Ganz hinten in dem Boot saß eine Frau, die das Kopftuch so tief in die Stirn gezogen hatte, daß Bo ihr Gesicht nicht sehen konnte. Aber gerade, als das Boot, vorüberglitt, schob sie das Tuch zurück und sah ihn an. Und Bo erkannte Gertrud.
Da zitterte Bo vom Scheitel bis zur Sohle in tiefer Erregung. Er setzte sich nieder und hielt sich an der Ruderbank fest. Er fürchtete, daß er sich ins Meer stürzen würde, nur um schneller zu Gertrud zu gelangen.
Tränen stürzten ihm aus den Augen, während er die Hände faltete und Gott dankte. Nein, niemals war ein Mensch mehr dafür belohnt worden, daß er von einer Sünde abgelassen hatte. Nie in der Welt war Gott so gut gegen jemand gewesen.
Der Kreuzträger
Während all der Jahre, die die Gordonisten in Jerusalem gewohnt hatten, war jeden Tag in der heiligen Stadt ein Mann erschienen, der ein schweres und plumpes hölzernes Kreuz schleppte. Er sprach mit niemand, und niemand sprach mit ihm. Niemand wußte, ob der Mann ein armer Wahnsinniger war, der sich einbildete, Christus zu sein, oder ob er ein armer Pilger war, der einen Bußgang ausführte.
Der arme Kreuzträger schlief des Nachts in einer Grotte draußen auf dem Ölberge. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, stieg er auf den Berg hinauf und sah hinab auf Jerusalem, das auf einem etwas niedrigeren Hügel ihm gerade gegenüber lag. Er sah über die ganze Stadt hinaus, wie jemand, der sucht, ließ die Augen von Haus zu Haus, von Kuppel zu Kuppel schweifen, eifrig forschend, als erwarte er, daß in der Nacht irgendeine große Veränderung eingetreten sei. Endlich, wenn es ihm klar wurde, daß noch alles war wie vorher, seufzte er tief auf. Er kehrte in seine Grotte zurück, hob das große Kreuz auf die Schultern und setzte sich einen Kranz, der aus stacheligen Dornenzweigen geflochten war, auf den Kopf.
Dann begann er seine Wanderung den Berg hinab, schleppte seine schwere Last zwischen Weingärten und Olivenhainen dahin, bis er die hohe Mauer erreichte, die den Garten von Gethsemane umgab. Hier pflegte er vor einer niedrigen Pforte Halt zu machen, legte das Kreuz an die Erde und stützte sich gegen den Türpfosten, wie um zu warten.
Wieder und wieder beugte er sich hinab und legte sein Auge an das Schlüsselloch, um in den kleinen Garten hineinzusehen. Wenn er dann einen der Franziskaner, die die Obhut über Gethsemane führten, sich zwischen den alten Olivenhainen und Myrtenhecken bewegen sah, trat ein gespannter Ausdruck in sein Gesicht, und er lächelte wie in froher Erwartung. Aber gleich darauf schüttelte er den Kopf; er schien zu der Überzeugung gelangt zu sein, daß der, den er suchte, nicht kommen würde. Er nahm wieder das Kreuz und wanderte weiter.
Dann pflegte er die tieferliegenden Terrassen des Berges hinabzugehen, hinunter in das Tal Josaphat, mit dem großen jüdischen Kirchhof. Das schwere Kreuz schleppte hinter ihm drein, es rasselte über die großen Grabsteine und fegte die kleinen Kiesel, die darüber ausgestreut waren, zur Seite. Wieder und wieder blieb er stehen, wenn er die kleinen Kieselsteine rasseln hörte, und sah sich um, offenbar in dem Glauben, daß ihm jemand folge. Jedesmal, wenn er merkte, daß er sich geirrt hatte, seufzte er wieder tief auf und wanderte weiter.
Diese Seufzer wurden zu einem schweren Stöhnen, wenn er den Talgrund erreicht hatte, und ihm die Arbeit bevorstand, das mächtige Kreuz den westlichen Abhang, auf dessen obersten Gipfel Jerusalem liegt, hinabzuschleppen. Auf dieser Seite liegen die Gräber der mohammedanischen Bevölkerung, und hier sah er oft eine trauernde Frau in ihr weißes Überkleid gehüllt, auf einem der niedrigen, sargförmigen Grabdenkmäler sitzen. Er schwankte dann auf sie zu, bis sie, aufgeschreckt von dem Geräusch, den das Kreuz verursachte, indem es über die Grabsteine dahinschleifte, sich nach ihm umwandte. Ihr Antlitz war von einem dichten, schwarzen Schleier verhüllt und erweckte die Vorstellung, daß dahinter nichts weiter sei, als ein leeres, dunkles Loch. Da wandte er sich mit einem Schaudern ab und wanderte weiter.
Mit unaussprechlicher Mühe kletterte er ganz bis auf den Gipfel des Berges hinauf, dort, wo die Stadtmauer aufragt. Dann pflegte er auf einem schmalen Pfad innerhalb der Mauer nach dem Berge Zion auf der südlichen Seite des Berges zu wandern, und kam ganz hinauf bis zu der kleinen armenischen Kirche, die das Haus des Kaiphas genannt wird.
Hier legte er wieder das Kreuz an die Erde und lugte wieder durch das Schlüsselloch. Aber er begnügte sich nicht damit; er erfaßte den Glockenstrang und schellte. Wenn er eine Weile darauf ein Paar Pantoffel über die Steinfliesen klappern hörte, lächelte er und führte schon die Hände an die Dornenkrone, um sie vom Kopf' zu nehmen.
Aber sobald der Kirchendiener, der die Pforte öffnete, sah, wer es war, schüttelte er den Kopf.
Der Büßer beugte sich vor und sah in die halbgeöffnete Tür hinein. Er ließ seine Augen über den kleinen Hof hinschweifen, wo der Sage nach Petrus den Heiland verleumdet hatte, und vergewisserte sich, daß er ganz leer war. Da nahm sein Gesicht, den Ausdruck tiefen Grames an, er zog heftig die Pforte zu und wanderte weiter.
Das schwere Kreuz klapperte über die Steine und die alten Mauerbrocken dahin,die den Boden von Zion bedeckten. Es wurde jetzt mit noch größerer Eile dahingeschleppt, als wenn eine ungeduldige Erwartung dem Träger mehr Kräfte verleihe. Er ging durch das Zionstor in die Stadt hinein, und ließ das Kreuz nicht zur Erde sinken, ehe er vor dem schwerfälligen, grauen Gebäude stand, das als Grab König Davids verehrt wird, von dem aber auch gesagt wird, daß es den Saal enthalte, in dem der Herr das heilige Abendmahl eingesetzt hat.
Hier pflegte der Alte das Kreuz draußen liegen zu lassen, während er selbst in das Haus hineinging. Wenn der mohammedanische Türhüter, der sonst allen Christen zornige Blicke nachwarf, ihn kommen sah, verbeugte er sich vor ihm, wie vor dem, dessen Verstand bei Gott ist, und küßte ihm die Hand. Jedesmal, wenn der Alte Gegenstand dieses ehrerbietigen Grußes war, sah er dem Türhüter erwartungsvoll in das Gesicht. Aber gleich darauf zog er seine Hand zurück, trocknete sie in seinem langen, groben Mantel ab, wandte sich um und trat wieder hinaus, wo er von neuem das Kreuz auf seine Schultern hob.
Darauf schleppte er sich mit unendlicher Langsamkeit nach dem nördlichen Teil der Stadt, wo Christi Leidensweg sich dunkel und schwer dahinzieht. Solange er sich in den menschenwimmelnden Straßen befand, sah er jedem ins Gesicht, blieb stehen, forschte, und wandte sich wieder um, in ewiger Enttäuschung. Gutmütige Wasserträger, die sahen, daß er unter seiner schweren Last schwankte, reichten ihm oft eine kleine, zinnerne Schale voll Wasser, und die Gemüsehändler pflegten ihm eine Handvoll Bohnen oder Pistazien zuzuwerfen. Wenn ihm diese Gaben geboten wurden, nahm er sie zuerst