Tod einer Kassenpatientin. Rainer Bartelt
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Und so waren es keine „Wollmäuse“ mehr, die in den Zimmerecken ihre Jugend verbrachten, um anschließend unter und hinter den Schränken still und von Gerda unbemerkt umher zu wandern, sondern es waren „Wollkatzen“ oder in einzelnen Fällen sogar eher „Wollelefanten“, die einen traurigen Beleg für eine zunehmend verminderte Sehkraft meiner Mutter darstellten. Was mich aber am meisten verblüffte: Die vom Pflegeheim gestellte ambulante Reinigungsfachkraft fasste die in der Wohnung in reichlicher Anzahl vorhandenen Schmutznester keinesfalls als Ansporn auf, das Problem mit professioneller Energie anzugehen. Stattdessen beschwerte sie sich das eine über das andere Mal bei meiner Frau, wie dreckig doch die Wohnung sei, die sie sauber machen sollte. Das war eine Logik, die nicht so ganz in mein bisheriges intellektuelles Regelwerk passen wollte.
Noch ein weiterer Grund führte dazu, dass der externe Reinigungsservice nicht sofort die gewünschte Wirkung entfaltete: Gerda fand es nämlich höchst spannend, was jetzt in ihrer Wohnung abging. Sie platzierte sich mit ihrem mit Rollen ausgestatteten Serviertischchen, das ihr als provisorische Gehhilfe diente, mitten am Ort des Geschehens und versuchte, den Arbeitseifer der vom Heim geschickten Reinigungskraft zu dirigieren und anzuspornen. Was auch umgehend Wirkung zeigte, wenn auch nicht die gewünschte: Sehr schnell wurden aus einer Reinigungskraft viele verschiedene Reinigungskräfte! Mit einem Mal kamen jede Woche immer wieder andere Frauen, die sich anschickten, die Wohnungsreinigung voranzutreiben. Bis schließlich eine gefunden wurde, deren Fell anscheinend dick genug war, um a) meine Mutter und b) die ganze Aufgabe nicht allzu ernst zu nehmen, dauerte es einige Zeit. Zu guter Letzt wurde en détail dann aber doch noch einiges auf den Pfad der Sauberkeit gebracht. Für mich, der später Gerdas leere Wohnung besenrein an den Nachmieter übergeben musste, blieb trotz alledem noch genug zu wischen übrig.
Der erste Besuch des MDK
Selbstverständlich war das Einkaufen der Reinigungshilfsmittel und aller anderen Dinge des täglichen Bedarfs, wie unter anderem Drogerieartikel, Getränke und Lebensmittel für Frühstück und Abendessen, nur ein Beispiel für die vielen anderen anfallenden Aufgaben, die mit Gerdas Pflege jetzt neu und zusätzlich auf Petra und mich zu kamen: Damit das Heim für Mittagessen und Sauberkeit sorgen konnte, mussten Vorgespräche geführt, Angebote geprüft, Verträge gemacht und Rechnungen bezahlt werden. Auch als kurz danach der ambulante Pflegedienst zum Einsatz kam und Gerda bei der Körperpflege, beim Anziehen und beim Essen half, gab es noch genug für uns zu tun: Neben dem Einkaufen auch das Besorgen und Beantworten der Post, das Erledigen der Bankgeschäfte, Terminabsprachen mit dem Hausarzt, Beschaffen von Medikamenten, sauberer Kleidung und vieles andere mehr.
Nachdem sich einige Mitarbeiter vor Ort in Gerdas Wohnung ein Bild von der allgemeinen Lage gemacht hatten, war das Pflegeheim sehr daran interessiert, meiner Mutter außer dem Essen auf Rädern und der wöchentlichen Wohnungsreinigung auch andere Hilfeleistungen anbieten zu können. Daher sorgte die Heimverwaltung selbst dafür, dass Gerda von den Medizinischen Diensten der Krankenkassen (MDK) ein Gutachtertermin angeboten wurde. Wir waren natürlich auch sehr daran interessiert, dass dieser Termin schnell zustande kam. Also widersprachen wir dem vorgeschlagenen Besuchstermin nicht, obwohl Petra am besagten Tag verhindert und ich selbst auf Dienstreise war, wir beide also Gerdas erster Begutachtung durch den MDK nicht beiwohnen konnten. Stattdessen wurde vereinbart, dass außer Gerda und dem Gutachter noch eine enge Freundin unserer Familie und eine erfahrene Mitarbeiterin der Heimverwaltung anwesend sein sollten.
Im Auftrag der Medizinischen Dienste rief ein „netter Herr“ kurz vor dem Termin bei Mutti an und meinte, er würde sich wohl etwas verspäten. Die entsprechend informierte Mitarbeiterin des Pflegeheims kam daraufhin natürlich auch etwas später zu Gerda, der Gutachter vom MDK war aber doch pünktlich da gewesen und inzwischen schon wieder weg. Was für den besagten netten Herrn den Vorteil hatte, dass – anders als vorgesehen – niemand vom Pflegeheim bei dem Gutachtertermin anwesend war. Mit dem MDK hatten also nur Gerda und unsere Freundin Nina am schön gedeckten Kaffeetisch gesessen und sich unterhalten.
Passend zu dieser gemütlichen Runde fiel das Gutachten von Kleinigkeiten abgesehen ausgesprochen positiv für meine Mutter aus: Zwar wurden „körperliche Schwäche, Urininkontinenz, arterieller Hypertonus (Bluthochdruck), deg. WS-Syndrom (Probleme mit der Wirbelsäule), Rundrücken“ festgestellt. Aber: „Es liegt keine demenzbedingte Fähigkeitsstörung, geistige Behinderung oder psychische Erkrankung vor… Versicherte ist zu allen Qualitäten orientiert und kann sich selbstständig beschäftigen… Tremor in den Händen (zittrige Hände), keine Paresen (Lähmungserscheinungen).“ Und weiter an verschiedenen Stellen des Gutachtens: „Appetit erhalten… Stuhlgang regelmäßig und täglich… Aus den festgestellten Auffälligkeiten resultiert kein regelmäßiger bzw. dauerhafter Beaufsichtigung- und Betreuungsbedarf… Begutachtungsergebnis: Pflegestufe 1.“
Ausdrücklich erwähnt wurde in dem Gutachten, dass der gutachterlich festgestellte Hilfebedarf „mit den Angaben der Pflegeperson“ übereinstimme. Und genau da lag der Hund begraben: Für meine Mutter war der Besuch des Gutachters ein besonderes gesellschaftliches Event, bei dem sie noch einmal alle ihre Qualitäten als Gastgeberin ausspielen konnte – ein allerletztes Mal, wie sich dann leider herausstellen sollte. Obwohl meine Eltern nie ein eigenes Haus besessen hatten, sondern ihr ganzes Leben über in verschiedenen Wohnungen zur Miete gewohnt hatten, waren ihre Einladungen und Gesellschaften immer ein Ausdruck purer Lebensfreude gewesen. Bei solchen Gelegenheiten waren Gerda und mein Vater Fritz Wilhelm Ernst Bartelt stets perfekt gekleidet, der Tisch äußerst geschmackvoll und opulent gedeckt und die ganze Wohnung auf Hochglanz gebracht. Kurz und gut, von den Speisen und Getränken bis hin zum äußeren Anschein: Kein Gast vermisste irgendetwas, kein Gast ging unzufrieden nach Hause. Es wurde gelacht und diskutiert, gelegentlich auch gesungen und getanzt, und selbst wenn ich mich als Kind früh auf mein Zimmer zurückgezogen hatte, fand ich ruhigen und erholsamen Schlaf meist erst viel später, als mir lieb war.
Fast genau so war es auch am Tag des MDK-Besuchs: Meine Mutter hielt an perfekt gedeckter Kaffeetafel Hof, und wenn unsere gute Freundin nicht dabei gewesen wäre, wären so nebensächliche Themen wie Urininkonsistenz und Gerdas angeblich guter Appetit und täglicher Stuhlgang niemals zur Sprache gekommen. Stattdessen hätte sie noch mehr von ihrer bewegten Vergangenheit mit Flucht und Vertreibung und ihren späteren Erfolgen bei ehrenamtlichen Tätigkeiten, vornehmlich für die evangelische Kirche in ihrer damals neuen Heimat Schleswig-Holstein gesprochen. Auch ihr Buch („Bilder einer Kindheit“) und meine eigenen beruflichen Erfolge wären sicherlich ausführlich zur Sprache gekommen. Auffällig, ihr hervorragendes Gedächtnis, so war es dann auch im ersten MDK-Gutachten vermerkt.
Leider entsprach die Realität nur wenig dem schönen Schein während der gemütlichen Kaffeerunde: Anders als im Gutachten vermerkt, zeigte Gerda seit Beginn ihrer Hilfsbedürftigkeit deutliche Anzeichen einer schweren Depression, hatte ihren Appetit fast vollständig verloren, trank wegen ihrer Blasenprobleme viel zu wenig, konnte sich auch nicht mehr selbst beschäftigen, weder dem Radio- noch dem Fernsehprogramm folgen, sondern saß die meiste Zeit apathisch und bewegungslos in ihrem Wohnzimmerstuhl und litt demzufolge – entgegen der eindeutig falschen Aussage das Gutachtens – unter einer schweren Verstopfung, der auch mit Abführmitteln (sie nahm regelmäßig Dulcolax-Zäpfchen) nicht mehr beizukommen war. „Wann holt mich der Herrgott endlich zu sich?“, war immer öfter die Begrüßung, wenn ich zu ihr kam. Noch heute sehe ich mich abends in ihre nur spärlich erleuchte Wohnung kommen und meine Mutter regungslos am Tisch sitzen, schweigend ins leere Dunkel blickend, im Geist ihren Herrgott und Schöpfer um Erlösung anflehend – ein Schatten ihrer selbst.
Der Sturz
Dabei hatte es schon vor dem