Tod einer Kassenpatientin. Rainer Bartelt
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Nach gefühlten fünf Minuten ergebnislosem Hin und Her platzte mir dann endlich der Kragen: „Einen Scheissdreck werde ich tun! Meine Mutter hat mich gebeten, einen Notruf abzusetzen, und das habe ich hiermit getan. Jetzt liegt die Verantwortung bei ihnen. Ich lege jetzt auf. Sie haben die Telefonnummer meiner Mutter und können selbst dort anrufen, wenn sie unbedingt wollen. Ich für meine Person habe gesagt, was ich weiß. Die Entscheidung, ob sie einen Krankenwagen schicken wollen oder nicht, liegt jetzt ganz allein bei ihnen!“ Bumms, mein Funktelefon knallte in die Station.
Als ich nach einer kurzen und schnellen Fahrt durch die menschenleere Stadt etwa eine Viertelstunde später bei meiner Mutter eintraf, waren die Rettungssanitäter schon wieder weg. Verglichen mit der ganzen Aufregung am Telefon hätte die Szenerie, die ich in ihrem schummrigen Schlafzimmer vorfand, nicht weniger spektakulär sein können: Gerda lag im Bett, die Bettdecke stramm hochgezogen, und auf dem Nachttisch vor ihr stand nichts weiter als ein kleines Fläschchen mit Magentropfen, daneben ein schnell ausgefülltes , gefährlich rot eingefärbtes Diagnoseformular. „Geht es dir besser?“ Sie schüttelte den Kopf. „Trink was, vielleicht hilft dir das!“ Mit etwas klarem Wasser und vielen guten Worten bekam meine Mutter dann irgendwann doch noch die Kurve in dieser Nacht. Aber mehr als eine Mütze Schlaf war es nicht, was wir beide am Ende bekamen, bevor der Morgen graute. Ihre Appetitlosigkeit, ihre Übelkeit und ihre Magenschmerzen machten Petra und mir so große Sorgen, dass wir gemeinsam mit ihrem neuen Hausarzt beschlossen: „Gerda muss wieder zu einer gründlichen Untersuchung in die Klinik!“
Die Klinik gibt Entwarnung
Da eine Überweisung vom Hausarzt vorlag und ich nicht nur nicht auf Reisen war, sondern auch die Möglichkeit hatte, ausnahmsweise früher Feierabend zu machen, konnte ich meine Mutter am darauf folgenden Freitag, dem 31. Oktober, selbst in die Klinik fahren. Vor dem Parkplatz der Notaufnahme gab es eine kurze Diskussion mit dem Parkwächter, weil kein Schwerbehinderten-Ausweis an der Windschutzscheibe meines Autos klebte. Wir durften dann aber doch dort parken. Gott sei Dank, denn die 25 Meter Luftlinie vom Auto zum Empfang der Notaufnahme erwiesen sich für Gerda zu meiner großen Verwunderung als eine schier unüberwindliche Distanz. Auf halber Strecke war ich gezwungen, mit ihr am Arm spontan scharf nach rechts in Richtung der dort an einer Wand geparkten Rollstühle abzubiegen. Nachdem wir uns davon einen zu eigen gemacht hatten, irrte ich erst einmal mit Gerda durch lange Gänge auf der Suche nach der offiziellen Patientenaufnahme, bis wir dann am Ende doch wieder in der gleich am Eingang befindlichen, uns schon vertrauten Notaufnahme landeten.
Nach einiger Wartezeit befand sich Gerda wie vor Wochen in demselben Raum der Notaufnahme und sogar wieder im gleichen Bett. Und wie bei unserem letzten Besuch war „Schwester Dragoner“, die mir schon zur Genüge bekannte resolute Pflegerin, auch dieses Mal wieder präsent. Sie schien sich sogar noch dunkel an meine Mutter zu erinnern. Gerda hatte bei ihr damit anscheinend einen Status als Stammgast erworben, denn die Dragoner-Schwester war dieses Mal nur muffelig und nicht richtiggehend unfreundlich. Zur Begrüßung brachte sie meiner Mutter sogar ein Glas Wasser, wurde dann allerdings schnell wieder unwirsch, als Gerda postwendend nach der Bettpfanne verlangte. „So schnell kann doch kein Mensch Wasser lassen!“ „Ich schon!“, sagte Gerda und trat auch gleich den Beweis an.
Nachdem Muttis Magen-Darmtrakt wieder mit dem größtmöglichen technischen Aufwand untersucht worden war, wurde sie am Sonntag auf die Wachstation der Notaufnahme verlegt. Der Dienst habende Chefarzt informierte Petra und mich am Sonntagabend, dass man bei seiner Patientin Gerda Bartelt außer einer Verstopfung keinerlei Anzeichen einer schweren Erkrankung gefunden habe. Man hätte zur Sicherheit noch eine Magen-Darm-Spiegelung machen wollen, meine Mutter habe dies aber abgelehnt. Ich konnte das nur zu gut verstehen, denn eine derartige Aktion war sicherlich ziemlich unangenehm. Und warum sollte Gerda sich unnötig quälen, wenn ihr Blutbild und alle anderen Untersuchungsergebnisse in Ordnung waren?
Ich kam deshalb ohne Umschweife auf mein zweites Anliegen zu sprechen, nämlich auf das sie fast genauso schlimm quälende Blasenproblem. Für mich war die Tatsache, dass Gerda den Urin nicht halten konnte und der Gang zur Toilette in ihrer großen Wohnung mindestens beschwerlich, wenn nicht sogar (sturz-)gefährlich war, entscheidend dafür, dass sie zu wenig trank und damit auch maßgeblich für ihre Darmprobleme. Mit Petras Unterstützung machte ich dem Arzt klar, dass wenn Gerda ohne Behandlung ihrer Blase entlassen würde, sie über kurz oder lang mit den gleichen Magenproblemen wieder in der Notaufnahme landen würde. Am Ende pflichtete er uns bei und versprach, sich um Gerdas Verlegung in die Urologie zu bemühen.
Vom Paradies in die Hölle
Erleichtert und voller Hoffnung auf Mutters baldige Genesung verließen wir die Klinik. Doch schon am darauf folgenden Tag war derselbe leitende Arzt der Notfall-Wachstation nicht wiederzuerkennen. In der Urologie sei kein Bett frei. Inkontinenzprobleme würden sowieso nur ambulant behandelt. Dass Gerda gehbehindert sei, spiele dabei keine Rolle. Am Ende fiel sogar das Argument: „Vielleicht sind die Kollegen in der Urologie ja auch der Meinung, dass bei Ihrer Mutter mit 92 Jahren eh‘ nichts mehr zu machen ist!“ Ich war geschockt. Das Einzige, was ich nach langer Diskussion erreichen konnte, war die Zusage eines Termins für eine ambulante Blasenuntersuchung etwa einen Monat später und Gerdas Verbleib in der Klinik, bis die häusliche Versorgung durch den Pflegedienst wieder gewährleistet werden konnte. Petra war genauso geschockt wie ich, als ich ihr das Ergebnis meines Klinikbesuches berichtete: „Ein ganzer Monat Wartezeit, das kann doch nicht wahr sein. Hoffentlich steht Mutti das durch!“
Aus einem wohlgeordneten Umzug von der Klinik zurück in Gerdas eigene vier Wände wurde leider auch nichts. Sie kam erst einmal auf eine normale Krankenstation, in der für uns abends leider kein Arzt für Auskünfte zu erreichen war (weil dieser Arzt selbst krank zuhause lag). Immerhin genoss Gerda auch dieses Mal ihre Zeit im gepflegten und gut betreuten Krankenzimmer, obwohl sie die fast täglich wechselnden Mitbewohnerinnen in dem kliniktypischen Zweibettzimmer doch etwas nervten. Zu laut, zu viel Besuch, zu viel Fernsehen. Trotzdem war sie guter Hoffnung: „Heute morgen war ein Professor da, der hat mich unten genau untersucht und mir versprochen, dass mir mit meiner Blase geholfen wird!“ Was war das? Hatte die Klinik doch ein Einsehen? Andere Informationen hatte ich nicht, und so kam ich zu der Annahme, dass meine Mutter doch noch während ihres Klinikaufenthaltes auf ihre malade Blase hin untersucht werden sollte. Leider entbehrte diese Annahme jeder Grundlage, wie sich später herausstellte. Aber ich versäumte auf Grund dieser Fehlinformation das Notwendigste, mich nämlich umgehend um die Wiederaufnahme von Gerdas häuslicher Versorgung zu kümmern.
Die Quittung kam prompt: Eine am Telefon eigentlich sehr nett klingende Dame von der Sozialstation der Klinik rief mich morgens bei der Arbeit an und teilte mir mit, dass man Gerdas Bett dringend benötigen würde und ob sie jetzt nicht nach Hause könne. Ich verneinte: „Meine Mutter hat mir gesagt, dass ihre Blase noch behandelt werden solle.“ Das sei nicht richtig, informierte mich die Dame, es bleibe bei dem ambulanten Termin am 4. Dezember – in gut einem Monat. Eigentlich würden in der Klinik alle darauf warten, dass Gerda nach Hause käme und das Bett frei werden würde. Dafür wolle sie meine Zustimmung einholen. Für einen Moment juckte es mich, diese Zustimmung zu verweigern und abzuwarten, was dann passieren würde. „Zu Hause ist meine Mutter vollkommen unversorgt und ich bin auf dem Sprung zu einer Dienstreise, ich kann mich also nicht um sie kümmern.“ Was mit meiner Frau wäre? „Meine Frau ist ebenfalls berufstätig und tagsüber auch nicht verfügbar.“ Wie es denn mit einem Kurzaufenthalt im Pflegeheim sei? Gerda stünden in der Pflegestufe 1 achtundzwanzig Tage Kurzzeitpflege zu, dass könne man doch ausnutzen, bis sie wieder in ihre eigene Wohnung käme?
Ich war überhaupt nicht begeistert, im Gegenteil, nach der unbefriedigenden Diskussion mit dem Krankenhausarzt hatte ich jetzt schon wieder Grund, auf die Klinik sauer zu sein. Denn