Tod einer Kassenpatientin. Rainer Bartelt
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Das Messen ihrer Augenstärken war so gründlich daneben gegangen, dass meine Mutter von dem Tag an mehr als zwei Wochen lang praktisch sehuntüchtig und zu keiner ihrer sonst üblichen Freizeitbeschäftigungen fähig war. Ihrer schon vorher zunehmend depressiven und apathischen Stimmungslage war diese Tatsache überhaupt nicht zuträglich. Falls sie vorher dazu überhaupt noch in der Lage gewesen war, nach dieser Brillenpleite war sie überhaupt nicht mehr in der Lage, sich selbst zu beschäftigen. Für zwei endlos lange Wochen bestand ihr ganzer Tagesablauf darin, morgens gewaschen und angezogen zu werden, eine Schnitte Brot zu frühstücken, dann auf ihrem Wohnzimmerstuhl sitzend und ins Leere schauend auf das Mittagessen zu warten.
Das Mittagessen stand dann den ganzen Nachmittag fast unberührt vor ihr, bis ich am Abend kam, um sie von dieser Last zu entledigen. Ich versuchte, ihr mit einem kleinen, aus meiner Sicht super-einfach zu bedienenden Radio etwas Abwechslung zu verschaffen, doch sie kam selbst mit dessen supereinfachen Einknopf-Bedienung nicht zurecht. Die totale Ödnis, tagelang untätig in einer für sie vollkommen inhaltsleeren Wohnung gefangen zu sein, wäre schon für einen vollkommen gesunden Menschen die Hölle gewesen. Aber meiner Mutter ging es zu allem Unglück gesundheitlich weiterhin nicht besonders gut: Appetit und Verdauung hatten sich nicht wirklich gebessert und die Blase verweigerte auch nach dem Abklingen der Entzündung ihre Funktion.
Was tun?
Irgendwann in dieser verzweifelten Lage verfiel ich auf die grandiose Schnapsidee, meine Schwester Eva um Hilfe zu bitten. Wir Kinder waren Gerdas einzige noch lebende enge Blutsverwandten. Eva hatte in den späten Sechzigern nach Schweden geheiratet, war früh geschieden worden, aber nie zurück nach Deutschland gezogen. Selbst schon 72 Jahre und damit elf Jahre älter als ich, war es inzwischen schon zwei Jahrzehnte her, dass Eva Gerda besucht hatte. Bis zum damaligen Tag hatten beide allerdings im engsten Schriftverkehr miteinander gestanden.
Ich stellte mir vor, wie sehr sich Mutti über ein Wiedersehen freuen würde und wie sehr es ihr in ihrer jetzigen Situation helfen würde. Also machte ich mich daran, einen Brief an Eva zu schreiben. Ich schilderte zuerst Gerdas Situation und schrieb dann:
„Unsere Frage (Muttis und meine) ist deshalb: Hättest Du die Möglichkeit, kurzfristig für 1-2 Wochen zu uns nach Göttingen zu kommen, damit Mutti in ihrer Wohnung nicht vollständig vereinsamt? Zu fremden Menschen hat sie leider kein Vertrauen. Wir wissen, dass Du uns wahrscheinlich eine Absage schicken wirst, wir müssen Dich aber trotzdem fragen, weil wir uns keinen besseren Rat wissen. Nicht nur Mutti, auch Petra und ich würden uns sehr freuen, wenn Du uns besuchen würdest!
Liebe Grüße von Mutti, Petra und Rainer
PS: Wenn Du nach Deutschland kommst, würden wir Dich selbstverständlich persönlich vom Flugzeug abholen, Dich auch wieder hinbringen und selbstverständlich auch sonst hier alles für Dich regeln.“
Ein großer Fehler! Diesen Brief hätte ich besser nicht schreiben sollen, denn nun hatten Gerda und ich ein weiteres Problem an der Backe: Eva! Sie antwortete mir:
„Lieber Rainer, vielen Dank für Deinen langen Brief und die hübsche Karte. Ich verstehe, dass Du in einer sehr schwierigen Lage steckst – Petra natürlich auch. Doch ich kann Dir nicht helfen. Es tut mir leid.
Seit Deinem Brief habe ich Bauchschmerzen…“
Was ich nicht bedacht hatte: Eva bedurfte selbst der Hilfe. Wegen physischer und psychischer Probleme hatte sie ihren Dozentenberuf vorzeitig aufgeben müssen. Früher oft auf Urlaubsreisen im Ausland, litt sie inzwischen unter einer depressionsbedingten Reise-Phobie. Sie hatte wohl in letzter Zeit immer wieder versucht, kleinere Urlaubsreisen zu unternehmen. Doch erst kürzlich musste sie eine Urlaubsreise, auf die sie sich davor noch gefreut hatte, am Abreisetag absagen und den schon gezahlten Reisepreis in den Wind schreiben – weil sie aus heiterem Himmel dramatische Angstzustände bekam.
Das allein war es aber nicht: Zu allem Unglück quirlte mein in wattierte Formulierungen gepackter Wunsch, Gerda in ihrer äußerst bescheidenen Lage Gesellschaft und Beistand zu leisten, bei Eva den ganzen Quark der frühen Nachkriegszeit hoch: Dass Gerda sie als Kind in ein Heim gesteckt hatte, wo es ihr nicht gut ergangen sei. Dass ich schon als Kind von Gerda sowieso immer besser behandelt worden wäre. Dass mir ein richtiges Studium bezahlt worden wäre, während sie „nur“ Lehrerin werden durfte. Und so weiter und so fort.
War diese pauschale Ablehnung der von Mutti und mir dringend gewünschten Hilfeleistung von Eva wirklich ernst gemeint? Sollte Gerda jetzt noch, wo sie – meiner Wahrnehmung nach – in ihrer eigenen Wohnung unter unglaublich misslichen und traurigen Umständen und von fast allen allein gelassen dahinvegetierte, noch für diese alten Kamellen bezahlen? Ich konnte es nicht glauben, wollte es auch nicht wahrhaben und schrieb noch einen zweiten Brief an Eva. Ich riet ihr, wegen der Bauchschmerzen doch einmal mit ihren Freunden und Bekannten über ihr Problem mit Mutti zu sprechen. Vielleicht würde das helfen? Doch vergebens: Mit dem zweiten Brief hatte ich mich endgültig in die Nesseln gesetzt. Am Telefon sollte ich mich rechtfertigen: Wie ich zu der Annahme käme, sie hätte nicht mit ihren Freunden und Bekannten über die Reise nach Deutschland gesprochen? Natürlich hätte sie das getan und alle wären der Meinung gewesen, sie hätte sich richtig entschieden, nicht nach Deutschland zu fahren. „Und woher dann die Bauchschmerzen?“, dachte ich bei mir, sagte aber nichts.
Nicht nur dass ich gegen Evas Argumente nicht ankam, mit dieser Aktion erreichte ich das schiere Gegenteil dessen, was ich mit meinem gut gemeinten, aber wohl ziemlich naiven Ansinnen erhofft hatte: Gerda war jetzt noch gefrusteter als zuvor, weil ihre „liebe Eva“ nicht kommen wollte. Außerdem kosteten die unnötigen Diskussionen mit Eva Zeit und Kraft, die ich besser auf meine Mutter hätte verwenden sollen. Und das am Ende allerschlimmste Ergebnis meiner Bemühungen war: Hatte Eva bisher wenigstens von Zeit zu Zeit angerufen, um sich nach Gerdas Befinden zu erkundigen, herrschte jetzt eine äußerst schlechte Stimmung zwischen den beiden und damit für einige Zeit absolute Funkstille. Genau das Gegenteil dessen, was ich hatte erreichen wollen.
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