Dombey und Sohn. Charles Dickens
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Dieser denkwürdige Führer zog ihn jeden Tag nach dem Gestade des Ozeans hinunter, und Florence ging stets an seiner Seite her, während die schwermütige Wickham den Nachtrab bildete. Dort saß oder lag er nun stundenlang in seinem Wägelchen und fühlte sich nie übler gelaunt, als wenn ihm Kinder Gesellschaft leisten wollten – natürlich Florence stets ausgenommen.
»Sei so gut und geh weg«, konnte er zu einem Kinde sagen, das mit ihm Kameradschaft machen wollte. »Ich danke, aber ich brauche dich nicht.«
Fragte ihn wohl eine kleine Stimme in der Nähe, wie es ihm gehe, so pflegte er zu erwidern:
»Ich befinde mich recht gut, danke schön, aber es ist wohl am besten, wenn du zu deinem Spiel gehst. Tu mir den Gefallen.«
Dann drehte er den Kopf, um dem sich entfernenden Kinde nachzusehen, und sagte zu Florence:
»Nicht wahr, wir brauchen keine andern? Küsse mich, Floy.«
Zu solchen Zeiten konnte er auch die Wickham nicht leiden, und er freute sich, wenn sie wegging, was sie auch gewöhnlich tat, um Muscheln aufzulesen oder Bekanntschaften anzuknüpfen. Ein abgelegener Ort, weit weg von den gewöhnlichen Spaziergängen, war sein Lieblingsplatz, und Florence pflegte dann mit ihrer Arbeit an seiner Seite zu sitzen, ihm vorzulesen oder mit ihm zu plaudern. Der Wind blies ihm ins Gesicht, und das Wasser schlug bis an die Räder seines beweglichen Bettes; mehr verlangte er nicht.
»Floy«, sagte er eines Tages, »wo ist Indien, der Aufenthalt der Verwandten jenes Knaben?«
»O, das ist weit, weit weg«, sagte Florence, die Augen von ihrer Arbeit erhebend.
»Wochen?« fragte Paul.
»Ja, mein Lieber. Man muß viele Wochen Tag und Nacht reisen.«
»Wenn du in Indien wärest, Floy«, sagte Paul, nachdem er eine Minute geschwiegen, »so würde ich – was war es, was die Mama tat? Ich habe es vergessen.«
»Mich lieben!« entgegnete Florence.
»Nein, nein. Liebe ich dich nicht jetzt schon, Floy? Was tat sie doch – ja sie starb. Wenn du in Indien wärest, Floy, so würde ich sterben.«
Sie legte hastig ihre Arbeit beiseite, senkte ihr Köpfchen auf sein Kissen nieder und überhäufte ihn mit Liebkosungen. Auch ihr würde es so ergehen, sagte sie, wenn er dort wäre. Es werde ihm übrigens bald besser ergehen.
»O, ich bin jetzt schon viel besser«, antwortete er. »Ich meine nicht dieses, sondern wollte nur sagen, ich würde sterben vor Betrübnis und Einsamkeit, Floy!«
Ein andermal schlummerte er an derselben Stelle ein und schlief geraume Zeit ruhig fort. Plötzlich erwachend, lauschte er, fuhr auf und setzte sich horchend hin.
Florence fragte ihn, was er zu hören glaube.
»Ich möchte wissen, was es sagt«, antwortete er, ihr fest ins Gesicht blickend. »Das Meer, Floy, was spricht es denn in einem fort?«
Sie entgegnete ihm, daß er nur das Getöse der rollenden Wellen höre.
»Ja, ja«, versetzte er. »Aber ich weiß, daß sie immer etwas sagen. Stets das nämliche. Was ist dort drüben für ein Ort?« Er richtete sich auf und schaute mit großer Spannung nach dem Horizont.
Sie sagte ihm, daß dort drüben ein anderes Land liege; aber er erwiderte, dieses meine er nicht, sondern weiter weg – weiter weg. Später konnte er sehr oft in Mitte ihres Gesprächs plötzlich abbrechen, um zu lauschen, was doch die Wellen immer sagten: dann erhob er sich von seinem Lager, um nach jener unsichtbaren Gegend hinzusehen – weit weg.
Neuntes Kapitel. IN WELCHEM DEN HÖLZERNEN MIDSHIPMAN ANGELEGENHEITEN TREFFEN.
Der Hang der Romantik und Liebe zum Wunderbaren hatte sich in ziemlich starker Menge in der Natur des jungen Walter angesammelt. Dieser Hang war unter der Obhut des alten Solomon Gills durch die Wasser einer ernsten praktischen Erfahrung nicht sonderlich geschwächt worden und veranlaßte, daß er für Florences Abenteuer mit der guten Mrs. Brown ein ungewöhnliches, begeistertes Interesse hegte. Er bewahrte es treulich in seinem Gedächtnis, namentlich all das, woran er selbst mitgewirkt hatte, und trug es so mit sich herum, bis es das verderbte, eigensinnige Kind seiner Phantasie wurde, das ganz nach eigener Laune handelte.
Die Erinnerung an diese Vorfälle und seine eigene Beteiligung dabei wurde vielleicht noch bezaubernder durch die wöchentlichen Träume des alten Sol und des Kapitän Cuttle, wenn sie an Sonntagen beisammen saßen. Kaum verging einer von diesen Anlässen, ohne daß der eine oder der andere dieser würdigen Kumpane geheimnisvolle Anspielungen auf Richard Whittington machte. Der Kapitän war sogar so weit gegangen, eine Ballade von beträchtlichem Altertum zu kaufen, die lange unter andern poetischen Seemannsergießungen an einer Mauer der Trödlerstraße geflattert hatte. Die dichterische Leistung behandelte die Werbung und die Hochzeit eines hoffnungsvollen jungen Köhlers mit einer gewissen »lieblichen Peg«, einer mit allen Vorzügen ausgestatteten Tochter des Meisters und Miteigentümers eines Newcastler Kohlenschiffes. In dieser aufregenden Geschichte entdeckte Kapitän Cuttle eine tiefe geheime Beziehung zu dem Fall zwischen Walter und Florence. Sie begeisterte ihn dermaßen, daß er bei sehr festlichen Anlässen, z. B. an Geburts- und andern nicht sonntäglichen Feiertagen in dem kleinen Hinterstübchen das ganze Lied herunterplärrte und bei dem Wort »Pe–e–eg«, mit dem jeder Vers zu Ehren der Helden des Stücke« schloß, einen ganz erstaunlichen Triller anbrachte.
Aber ein offener, freimütiger Junge ist nicht gerade in der Lage, die Natur der eigenen Gefühle zu analysieren, wie tief sie auch in ihm verwurzelt sein mögen: und Walter wäre es schwer geworden, über diesen Punkt zu einer Entscheidung zu kommen. Er hatte eine große Zuneigung zu der Stelle, wo er Florence begegnet war, und der Straße, durch die er sie, obschon sie an sich durchaus nicht bezaubernd genannt werden konnte, nach Hause geführt hatte. Die Schuhe, die ihr unterwegs so oft abgeglitten waren, bewahrte er in seinem eigenen Stübchen auf, und wenn er abends in dem kleinen Hinterzimmer saß, entwarf er sich von der guten Mrs. Brown eine ganze Galerie von eingebildeten Porträts. Möglich, daß er auch nach jenen denkwürdigen Anlässen ein bißchen sorgfältiger in seinem Anzug wurde. Auch ist jedenfalls soviel gewiß, daß er während seiner freien Zeit gerne nach jenem Stadtteil spazierte, wo Mr. Dombeys Haus lag, in der unbestimmten Hoffnung, er könnte vielleicht der kleinen Florence auf der Straße begegnen. Aber bei alledem war sein Sinn so knabenhaft unschuldig, wie er es nur sein konnte. Florence war sehr hübsch, und es ist angenehm, ein hübsches Gesicht zu bewundern. Florence war zart und wehrlos. Was für ein stolzer Gedanke, daß er imstande gewesen, ihr seinen Schutz und seinen Beistand zu verleihen. Florence war das dankbarste kleine Geschöpf in der Welt: und es erfüllte ihn mit Entzücken, zu sehen, wie ihr dieses schöne Gefühl aus dem Antlitz leuchtete. Florence war vernachlässigt und wurde mit Kälte behandelt. Seine Brust quoll über von jugendlicher Teilnahme für das verachtete Kind in seiner öden stattlichen Heimat.
So kam es, daß Walter