Totensee. Betty Hugo

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Totensee - Betty Hugo

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so verwittert waren, dass die Inschriften nur noch mühsam zu entziffern waren. Ab und zu erhaschte sie eine Jahreszahl.

      Dabei fiel Lisa noch eine Tatsache unangenehm ins Auge, die ihr ihre Großmutter nicht erzählt hatte oder hatte sie nichts davon gewusst?

      Sie verdrängte das aufkeimende Gefühl drohenden Unheils, kramte einen Stift und ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche ihrer Jeans und überschlug die Anzahl der Grabstätten, indem sie ihre eigenen Schritte abzählte.

      Lisa maß auf diese Weise die Breite und Länge der Anlage und einzelner Gräber. Sie kam auf die erschreckende Anzahl von über tausend Gräbern. Allerdings relativierte sich diese Zahl, weil sich der Zeitraum der Begräbnisse auf über achthundert Jahre erstreckte. Das machte ein bis zwei unerklärliche Todesfälle pro Jahr aus. Inzwischen war sie bei den Feldern aus dem zwanzigsten Jahrhundert angelangt.

      Plötzlich meinte sie, einen bekannten Namen erkannt zu haben und ging in die Hocke, um die Inschrift genauer zu betrachten. Sie streckte gerade die Hand aus, um die moosbedeckten Buchstaben eines Namens, der mit einem „M“ begann, freizulegen.

      „Na, wie war ich?“, hörte sie, wie aus dem Nichts, eine fröhliche Stimme hinter sich und erlitt vor Schreck fast einen Herzinfarkt. Mit heftig zitternden Knien sank sie ins hohe Gras und fiel mit ihren Oberkörper gegen den Grabstein.

      Als Lisa das Gesicht hob, erkannte sie Jonas, der über sie gebeugt da stand und sie frech angrinste. Allerdings wechselte sein Ausdruck zu ehrlicher Sorge, als er bemerkte, wie stark er sie erschreckt hatte.

      „Oh, entschuldige, das wollte ich nicht. Tut mir leid. Ich wollte die alten Leutchen nur ablenken, damit du den Mönch ausfragen konntest. Dir liegt was auf der Seele, das merke ich dir an,“ sagte er mit besorgter Stimme und hockte sich zu ihr ins hohe Gras.

      Lisa brachte nur ein kraftloses Nicken zustande und meinte müde:

      „Für heute reicht es mir. Ich bin erschöpft und will in mein Zimmer. Vielleicht erzähle ich dir die Geschichte mal, aber nicht mehr heute.“

      Sie streckte ihm ihre Hand hin, damit er ihr aufhalf und war immer noch so angeschlagen, dass sie sich bei ihm einhaken musste. Gemächlich wanderten sie ins Hotel zurück.

      Zusammen mit der Gruppe der Neuankömmlinge nahm Lisa ein frühes Abendessen ein, bei dem sie sich geduldig die Geschichten der alten Herren über ihre sportlichen Erfolge anhörte. Sie fühlte sich fast wie bei ihrer Arbeitsstelle im Seniorenheim. Lisa beobachtete, wie Jonas mit der selbsternannten Kräuterhexe und Bruder Ansgar über seltene Kräuter fachsimpelte und tauschte mit ihm einen amüsierten Blick aus. Anschließend suchte sie ihr Hotelzimmer auf. Sie schaffte es gerade noch, sich die Zähne zu putzen, bevor sie erschöpft in ihr Bett fiel und auf der Stelle einschlief.

      Überschrift 1

      11. Kapitel

      In den frühen Morgenstunden verfiel Lisa in einen unruhigen Schlaf. Sie wachte davon auf, dass ein blaues Blinklicht durch das offene Fenster sein grelles, rotierendes Licht bis auf ihre Bettdecke schickte. Sie meinte, auch das schwache Geräusch eines Martinshorns in der Ferne zu vernehmen.

      Wie von Furien gejagt sprang Lisa aus dem Bett und stolperte schlaftrunken ans Fenster. Die kühle Nachtluft belebte schlagartig ihre Sinne. Waghalsig beugte sie sich hinaus über die Brüstung und forschte in der Dämmerung nach der Ursache des Blaulichts.

      Der bläuliche Schein kam aus der Richtung, in der sie den See vermutete. Seine riesige, schwarze Fläche wirkte im bleichen Mondlicht tatsächlich wie der Höllenschlund und strahlte etwas Unheilverkündendes aus. Es waren in der Tat mehrere Blaulichter, die eine gespenstische Szenerie beleuchteten.

      Ganz schwach meinte sie in der langsam aufkommenden Morgendämmerung mehrere Fahrzeuge als kleine Punkte am Seeufer zu erkennen. Sie kniff angestrengt die Augen zusammen. Polizeifahrzeuge? Feuerwehr?

      Unwillkürlich überkam Lisa ein nie gekannter Adrenalinschub. Jetzt gab es kein Halten mehr. Nichts und Niemand würde sie davon abhalten, den Dingen hier auf den Grund zu gehen.

      Flüchtig tauchte in ihrem Kopf noch der Gedanke auf, ihren neuen Bekannten Jonas, dessen Zimmer sich nur einige Meter entfernt auf dem Flur befand, zu fragen, ob er mitkommen wollte. Lisa verwarf diesen Gedanken jedoch in der gleichen Sekunde, in der er sie streifte. Nein, das war allein ihre Angelegenheit. Sie würde keinen anderen Menschen da mit hineinziehen.

      In Windeseile fuhr Lisa in ihre Jeans und streifte ein T-Shirt über. Dann raffte sie ihre Treckingschuhe zusammen und rannte mit fliegenden Haaren und bloßen Füßen, um kein lautes Getrampel zu verursachen, durch die menschenleere Hotelhalle in den Innenhof des Klosters.

      Lisa drückte die Klinke des Haupttores.

      „So ein Mist auch“, entfuhr es ihr. Es war verschlossen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich erneut um einige Takte. „War das hier nachts etwa ein Gefängnis?“

      Mit fliegenden Händen hangelte sie sich an der Mauer entlang. Nach einigen Metern ertastete sie eine kleine Seiteneingangstür, die mit einem altmodischen Türschloss gesichert war. Lisa rüttelte energisch daran, nichts tat sich, offensichtlich auch abgeschlossen. Sie ging einige Meter rückwärts, nahm ordentlich Anlauf und rannte gegen das Hindernis, wobei sie versuchte, das Holz mit ihrem soliden Wanderstiefel einzutreten. Erstaunlicherweise hielt das Schloss stand, aber die Bohlen des Türblatts waren vom Alter morsch und splitterten entzwei.

      Lisa bückte sich, bog die entstandene Öffnung mit den Händen auseinander und kroch hindurch. Schon befand sie sich im Freien. Mit zerkratzten Armen und von Brennnesseln geschundenen Beinen rappelte sie sich auf und peilte die Lage.

      Genau, das Blinklicht zeigte ihr den Weg. Erst rannte sie Querfeldein, bis sich ein kleiner Trampelpfad im Morgengrauen zeigte, der in Richtung des dunklen Wassers führte. Lisa beschleunigte ihre Schritte. Jetzt kam ihr ihre Fitness zugute. Tag für Tag legte sie unzählige Schritte bei ihrer Arbeit zurück. Längere Strecken im Laufschritt bewältigte sie, dank dieses Trainings, routiniert. Endlich öffnete sich das Gebüsch und gab den Blick auf den Uferstreifen frei. Sie schätzte, dass sie nur etwa einen Kilometer gerannt war.

      Ihr Laufschritt wurde durch ein weiß-rotes Absperrband brutal abgebremst, als sie um eine enge Kurve rannte. Fast hätte sie das Band zerrissen.

      Obwohl gerade erst die Morgendämmerung hereinbrach, hatte sich wie aus dem Nichts eine überschaubare Menschenmenge versammelt. Vermutlich kamen die Leute aus dem nahe gelegenen Dorf, überlegte Lisa. Nachdem sie einige Sekunden, wie alle anderen, mit offenem Mund wie versteinert auf die gespenstische Szenerie gestarrt hatte, gewann ihr Verstand wieder die Oberhand.

      Sie war nicht hier um zu glotzen, sondern um herauszufinden, was passiert war und ob das für ihre eigenen Nachforschungen eine Bedeutung hatte.

      Ein sehr unangenehmes Ziehen in der Magengegend, das Lisa immer als Bauchgefühl bezeichnete, meldete ihr bereits jetzt, dass irgendetwas schreckliches hier am See passiert sein musste. Auch wenn sie bislang noch keinerlei Beweise dafür beibringen konnte, bis auf das große Aufgebot an Hilfskräften zu nächtlicher Stunde.

      Sie zählte die Einsatzfahrzeuge. Es waren drei Polizeiwagen vor Ort, zwei wuchtige, große Feuerwehrfahrzeuge und ein Notarztwagen dessen hintere Türen offen standen und den Blick auf eine leere Bahre freigaben. Zu guter Letzt bemerkte Lisa einen schwarzen, altmodischen Leichenwagen mit einem vornehm

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