Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland. Arthur Holitscher

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Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland - Arthur Holitscher gelbe Buchreihe

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der Sowjetunion mit Hammer und Sichel eingeholt und die weiß-blau-rote Flagge Russlands aufgezogen. Damit wurde das utopische Experiment des Kommunismus auf russischem Boden beendet.)

      Diese Befreiung der Massen ist nicht wörtlich zu nehmen. Denn wenn man unter Freiheit Selbstbestimmung, Leichtigkeit der Bewegung, ein gemütliches Hinvegetieren versteht, so kann man diese Freiheit in Russland allerdings nicht finden. An ihrem Mangel leidet jedermann (nicht allein der Intellektuelle!), am allermeisten aber der russische Arbeiter.

      Einige Bemerkungen über die Art der Arbeitszuteilung und die Bedingungen der Arbeit selbst seien hier eingeflochten: Die Freizügigkeit des Arbeiters besteht nicht mehr. Die Vermittelung der Arbeitskräfte geschieht nicht durch Arbeitsbörsen, wie noch vor kurzem, sondern durch das Volkskommissariat für Arbeit (Kommissar Schmidt), das in enger Fühlung und bei den höheren Stellen auch in persönlicher Union mit den Gewerkschaften und ihren Führern steht. Arbeitspflicht besteht für jeden Mann vom 16. bis 50. Jahr, für jede Frau bis zum 40. Jahre. Der Maximalarbeitstag dauert 8 Stunden. In manchen Betrieben, die schwere, gefährliche oder gesundheitsschädigende Formen der Arbeit bedingen, wie in Zündholzfabriken, in Bergwerken usw., reduziert sich die Arbeitszeit um 2 bis 2½ Stunden und um ganze Arbeitstage in der Woche. Frauen haben acht Wochen vor und acht Wochen nach ihrer Niederkunft Anspruch auf vollständige Ruhe, vollständige Bezahlung ihrer Bezüge und auf eine Belieferung an Leinwandstoffen und allem Nötigen für die erste Versorgung des Kindes. Außerdem wird die Milchration, auch wenn die Frau ihr Kind nicht selbst stillt, erhöht. Schwankungen bei der Durchführung all' dieser Vorschriften sind noch zu beobachten. Ich selbst habe in manchen Betrieben junge Mädchen gesehen, die offenbar das 16. Jahr noch nicht erreicht hatten. Indes mag das auf einen Irrtum zurückzuführen sein; verkümmerte, armselige Proletarierkinder sind ja im Wachstum gehemmt worden von je, und der traurige Zustand des gequälten Landes vermochte daran im Zeitraum von drei Jahren trotz der ungeheuersten Anstrengung nichts Entscheidendes zu ändern.

      * * *

      Um das, was ich über die geistige Arbeit im Dienste des Staatswesens zu sagen habe, gleich in das richtige Gleichgewicht zu bringen, will ich zwei Sätze aus Lenins Broschüre „Staat und Revolution“ zitieren. Der erste Satz lautet: „Beamtentum und ständiges Heer, das sind die Parasiten am Körper der bürgerlichen Gesellschaft.“ Der zweite Satz lautet: „Von einer plötzlich restlosen Beseitigung des Beamtentums an allen Orten kann keine Rede sein. Dies wäre Utopie; aber den alten Beamtenapparat sofort zertrümmern und gleichzeitig mit dem Bau eines neuen beginnen, der die allmähliche Beseitigung jeglichen Beamtentums ermöglicht, das ist keine Utopie.“ Weiter führt Lenin aus: Mit der Beseitigung des spezifischen Vorgesetztentums der Staatsbeamten kann und muss sofort von heute auf morgen begonnen werden, und an deren Stelle müssen die einfachen Funktionen von Aufsehern und Buchhaltern treten.

      Was ich in Russland gesehen, erfahren, und ich darf ruhig sagen, erlitten habe, lässt sich auf das System der ungeheuerlichsten Zentralisierung des ganzen Produktions- und Verwaltungsapparates zurückführen, den diese an Schrecknisse gewohnte Welt jemals erlebt hat. Die Privatinitiative ist zugunsten der Staatsinitiative ausgeschaltet, aber die Menschen sind die alten geblieben. Das Beamtentum ist eine in allen Formen der Gesellschaftsordnung wiederkehrende Belastung des produktiven Arbeiters, des die Schätze der Natur, sei es durch den Pflug, sei es durch den Spaten hebenden Arbeiters, des die Schätze des Landes verarbeitenden und zum Gebrauch für die Gemeinschaft herrichtenden Arbeiters.

      Ein Wort an Alle, an alle Arbeiter, an die sich vereinigenden Proletarier aller Länder! Im Augenblick, in dem ihr die Herren der Staatsgewalt geworden seid, im Augenblick, in dem ihr die Klasse der Ausbeuter unterdrückt und vernichtet habt, beginnt für euch eine Zeit der ungeheuersten Kraftanstrengung, die Notwendigkeit unerhörtester Arbeitsleistung, die Zeit einer selbstauferlegten äußersten Sklaverei, die nur bei den Klassenbewusstesten, bei den Zukunftsbewusstesten unter euch ein Gegengewicht in der inneren Befreiung, in dem Bewusstsein der inneren Freiheit finden kann!

      Die Zentralisierung des politischen und wirtschaftlichen Verwaltungsapparates gebiert eine so maßlose, alle Begriffe überschreitende, jeder Kontrolle allmählich entschlüpfende Beamtenschaft, dass ihr wiederum für eine Schar mehr oder minder untätigen parasitären Individuen angestrengt zu arbeiten habt, maßlos zu arbeiten habt, nur dass diese auf eurem Buckel hockende Schar euch jetzt nicht mehr ausbeutet, sondern das verwaltet, was ihr mit eurer Hände und Hirne Arbeit aus dem Erdboden hervorstampft, in den Werkstätten verarbeitet.

      * * *

      Wenn unter dem kapitalistischen System nur die Hälfte der Bevölkerung rein produktive Arbeit leistet, so weiß ich nicht, welcher Bruchteil der Bevölkerung unter dem kommunistischen System rein produktive Arbeit leisten wird und kann. Die erste Notwendigkeit, die erste Tat nach der Ergreifung der Macht durch das Proletariat war: die kapitalistischen Führer und Beamten aus dem Staats- und Wirtschaftskörper völlig auszuschalten. Sofort darauf ergab sich als nächste dringendste Notwendigkeit die Aufgabe: unter diesen Ausgeschalteten vorerst die Spezialisten in den einzelnen Fächern wieder in den Beamtenkörper aufzunehmen. Diese Notwendigkeit birgt eine maßlose Gefahr in sich, wie ich es gleich ausführen will. Sieht man sich das Diagramm eines großen Verwaltungskörpers, z. B. des Obersten Wirtschaftsrates, im Zusammenhang mit allen den ihm untergeordneten Zweigen der Produktion und Verteilung an, so wird man an diesem Schema des Verhängnisvollen des Systems genau gewahr werden. Zuerst befindet sich im Innern dieses Diagramms, in der Mitte des Blattes, auf dem das Schema eines Kommissariats oder eines Zentralrats aufgezeichnet ist, ein kleiner Kreis.

Grafik 45

      In diesem Kreise steht der Volkskommissar für Arbeit, für Volksaufklärung, für Auswärtige Angelegenheiten, für Gesundheitspflege, oder was er sonst ist. Diese Männer, soweit ich sie kennen gelernt habe, soweit ich ihre Arbeit beobachten und mich über ihre Arbeit informieren konnte, sind Persönlichkeiten von absoluter, keiner Verleumdung zugänglichen Integrität, durch das Leben und das Schicksal erprobte, gehärtete, aufopferungsvollste, für unsere gemäßigten Zonen der Pflichterfüllung unbegreifliche Arbeiter, Verantwortungsträger, zum Teil wahre Apostel und Herolde einer neuen Zeit.

      Um diesen innersten Kreis, der entweder einen Namen oder die Namen eines ganz engen Komitees von drei bis fünf Menschen umfasst, zieht sich ein Kreis mit schon etwas breiterem Radius. In diesem Radius sind die Leiter der obersten Verwaltungsstellen des Kommissariats genannt, meist ebenso erprobte, zum großen Teil ebenso opferwillige, mit Arbeit überlastete und ihrer Verantwortung bewusste Kommunisten. Die Kreise weiten sich immer mehr. Jedem Leiter eines Verwaltungs- oder Produktions- oder Verteilungszweiges unterstehen Abteilungsleiter, die ihrerseits wieder einen weiteren Kreis und immer weitere Kreise von Untergebenen mit spezialisierten Funktionen besitzen. Je weiter diese Kreise sich von dem Mittelpunkt entfernen, umso weniger können die Funktionäre, die ihn ausfüllen, kontrolliert werden.

Grafik 48

      Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin – Георгий Васильевич Чичерин – 1872 – 1936

      Ich habe den Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Tschitscherin, kennengelernt, habe ungefähr zu sehen bekommen, wie sein Kommissariat arbeitet. Außerdem habe ich auch neben anderen Kommissariaten das Kommissariat für Volkserziehung des Genossen Lunatscharski zu beobachten Gelegenheit gehabt.

      Ich kann nicht sagen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Tüchtigkeit „des inneren Kreises und der äußersten Kreise“ ein und desselben Kommissariats besteht, und ich will nicht sagen, welches von den erwähnten Kommissariaten mir diese Überzeugung beigebracht hat. Ich weiß nur, dass Tschitscherin, ein kränklicher, hüstelnder Asket, von den achtzehn Arbeitsstunden, die er täglich leistet, reichlich zehn an Organisationsfehlern innerhalb seines Kommissariats einbüßen muss. Lunatscharski mag ein Mann von grandiosen Ideen

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