Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland. Arthur Holitscher
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Nach Iwanowo-Wosnessensk fuhr ich als Mitglied einer kleinen Gruppe, die unsere wunderbare Klara Zetkin begleitete. Iwanowo-Wosnessensk ist eine der größten Industriestädte Russlands, das Herz des revolutionären proletarischen Russlands. Hier herrschte unter der Arbeiterschaft Jubel ob des Besuches der seltenen Frau.
Clara Zetkin – 1858 – 1933
Auch Angelika Balabanoff befand sich in unserer Gesellschaft.
Angelika Balabanoff
Wir wurden mit militärischen Ehren empfangen. Die Rote Armee stand auf dem Bahnhof, die Militärkapelle spielte die Internationale, und wir nahmen eine Art Parade ab. Weinende Frauen begrüßten und küssten Klara und Angelika, die vom Trittbrett des Waggons Ansprachen an die Versammelten hielten.
Die Fabrik, die wir am nächsten Tage besichtigten, hatte im Frieden enorme Mengen von Kattunstoffen nach dem näheren und weiteren Orient geliefert. Die Musterbücher der Fabrik wiesen eine schier unglaubliche Fülle von buntesten Drucken auf. Alle Urformen indischer, chinesischer, persischer Dekoration fanden sich in diesen Musterbüchern vereinigt. Jetzt wurden natürlich Varianten von nur ganz geringer Zahl ausgeführt. Doch fanden wir schon neue Zeichnungen in einem sauberen, volkstümlichen Stile, der dem Geschmack des Proletariers angemessen schien. Im Hofe der Fabrik, die seit zwei Wochen erst wieder in Gang gesetzt worden war, im Frieden 4.500, jetzt nur 2.000 Arbeiter beschäftigte, lagen noch Berge von Granaten. Die Fabrik war nämlich im Kriege auf diesen angenehmen Produktionszweig umgestellt worden. Das ganze Teufelszeug rostete nun unter der dreimal wiederholten Schneeschicht. Iwanowo-Wosnessensk besitzt 210 Fabriken und ist, wie gesagt, das Zentrum der Kattunfabrikation Russlands. Durch die neue Produktionsweise sind jetzt alle für die Fabrikation von Textilwaren bestimmenden Bearbeitungsstellen vereinigt, während früher der unsinnige Zustand herrschte, dass man einen Stoff, der an einem Ort gewebt wurde, Tausende von Meilen weit an einen anderen Ort zur weiteren Bearbeitung, dann wieder quer durchs Land zum Dekatieren usw. herumschicken musste. Von den 210 Fabriken sind es zwanzig große, die gegenwärtig in Betrieb stehen. Kleine Betriebe sind natürlich gesperrt, da die Konkurrenz der Fabrikanten und die Privatinitiative mit dem Privateigentum aufgehört haben.
Auch hier sahen wir viel Heroismus der Arbeit und viel rührendes Elend. Blasse Frauen stürzten auf unsere Zetkin zu, zeigten ihre Bastschuhe – draußen hatten gerade die ersten Winterfröste eingesetzt – und baten die Freundin und Führerin, den Genossen Lenin zu veranlassen, dass er mehr Brot und mehr Schuhe nach Iwanowo schicke. (Der Ort galt von jeher als ein Hungerzentrum.)
Gegen welche Schäden moralischer Art das meines Erachtens die Moral nicht minder schädigende Prämiensystem anzukämpfen hat, lehrte uns der Besuch einer großen Mäntelnäherei in Petersburg. Als wir ankamen, war eine kleine Gruppe von jungen Arbeiterinnen im Zimmer des Betriebsleiters versammelt. Auf Stühlen lagen, sorgfältig hingebreitet, hübsche, aus gutem Tuch verfertigte und mit Seide gefütterte Blusen und Jacken, Röcke, sogar einige schöne warme Mäntel aus Plüsch und mit Pelzwerk. All dies wurde an Arbeiterinnen für gutes Verhalten, emsige Arbeit und pünktlich eingehaltene Arbeitszeit verteilt. Wir erfuhren, dass viele von den Arbeiterinnen sich den härtesten Strafen für Verletzung der Arbeitspflicht aussetzten, halbe Tage lang fortblieben, um für die Ehegattinnen irgendwo versteckter reicher Schieber Mäntel zu nähen, Kleider anzufertigen, wobei die Löhne für solche heimlich fertiggestellte Kleider zwischen 60- und 80.000 Rubel schwankten. Hier hatten wir einen wüsten Ansturm von großstädtisch demoralisierten, keifenden und fuchtelnden Frauen zu bestehen. Dieser Ansturm galt dem Abteilungsleiter der Petersburger zentralen Kommunalbehörde, der uns die Werkstätten zeigte. Der Mann, einer der tüchtigsten, gewissenhaftesten und arbeitsfreudigsten Beamten des großen Stabes der Petrokommun war ehemals selbst Schneider gewesen. Die Beschwerden der Arbeiterinnen waren: mangelhaftes Schuhwerk und ungerechte Bevorzugung irgendwelcher Kolleginnen bei der Verteilung der Prämien.
* * *
Russland, das blockierte, vom Krieg bedrängte, vor inneren Feinden sich nur ungenügend schützende Russland krankt an einer Unterproduktion des Notwendigsten.
Das traurigste Wort, das ich in Russland gehört habe, war das Wort: Remont. Remont bedeutet Reparatur, und wenn man Remont hört, bedeutet es, dass etwas kaputt ist, das nicht repariert werden kann. Im täglichen Leben bemerkt man dasselbe wie in den großen Dingen der öffentlichen Einrichtungen und Notwendigkeiten. Ging in dem schönen Hause, in dem ich in Moskau wohnte, eine Schraube von der Klinke meiner Zimmertür verloren, so konnte ich meine Tür nicht mehr schließen, denn es waren einfach keine Schrauben zu beschaffen. Mein Weg in die Stadt führte mich durch eine der belebtesten Verkehrsadern, eine abschüssige Straße entlang. Mitte Oktober hatten wir 15 Grad Kälte. In einem vierstöckigen Hause war allem Anschein nach ein Leitungsrohr geplatzt. Ein ekler Bach von Urin er ergoss sich gelb durch den Schnee und das Eis hundert Meter weit über die Straße. Die Röhren waren nicht zu ersetzen. Überall auf Schritt und Tritt Verwüstung, Unersetzbarkeit, Ruin. Damit zugleich Resignation, Gehenlassen, Verlotterung, Sich-Hinlegen und Sterben.
Anton Iwanowitsch Denikin – 1872 – 1947 – zaristischer Offizier der „Weißen“
Und doch – im Frühjahr 1920 gab es zwischen der Erledigung Denikins und dem neu einsetzenden Polenkrieg einen Zeitraum von ungefähr drei Monaten, in dem die Industrie mit einem Ruck erhöhte Produktion aufwies, dadurch die Belieferung vom Lande einen Aufschwung nahm, die allgemeine Stimmung sich hob, das System erstarkte und an Anhängern gewann. Aber dann kam Polen, dann kam Wrangel, dann kamen die Besetzung des Donjetzbeckens, die Verwüstung und die Abschneidung der ukrainischen Felder, die Wegnahme der Naphthaquellen, Müdigkeit, Verzweiflung. Trotzdem ließ man den Mut nicht sinken. Die Lebensmittelration der Kinder wurde erhöht (die bösen Kommunisten erhöhten sogar die Lebensmittelration für die Kinder der verhassten Bourgeoisie), und die wenigen Monate Waffenstillstand an der Front bewirkten, dass der Winter 1920/1921 minder hart und gefährlich auf die leidende Bevölkerung der großen Städte niederfällt.
Als ich Russland verließ, war Wrangel in die Flucht geschlagen, und wir atmeten auf. Eine Zeitspanne von mindestens vier Monaten Ruhe an den Fronten stand Russland bevor. Russland, das ein bewunderungswürdig aufgebautes Heer von Arbeitern und Bauern besitzt, wird imstande sein, diese disziplinierten, zum Teil enthusiastischen, weil für das Recht kämpfenden Männer zur Arbeit in den wichtigen, für Leben und nächste Zukunft entscheidenden Produktionszweigen umzustellen. Wenn der Krieg, wie ich später ausführen werde, hilft: die Idee des Kommunismus in der Armee und damit in den breitesten Massen des russischen Volkes auf entscheidende Weise zu verbreiten, so hilft der Waffenstillstand, die Atempause zwischen zwei Kriegen, die Industrie zu stärken. So bewirkt der Kampf der Entente genau das Entgegengesetzte von dem, was sie sich von der Bekämpfung des Bolschewismus verspricht. Die Zukunft wird es lehren, ob der Weltkapitalismus sich nicht in einem nutzlosen Ansturm gegen die Idee der Befreiung der Massen aufreibt und verausgabt.
(Die Russische SFSR, die schon im Juni 1990 ihre Souveränität, nicht aber ihre Unabhängigkeit verkündet hatte, erklärte im Dezember 1991 die formale Auflösung der Sowjetunion, was die Überleitung der Außenbeziehungen der alten Sowjetunion auf die neu entstandene Russische Föderation erleichterte. Boris Jelzin, der in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des Landes am 12. Juni 1991 zum Präsidenten Russlands gewählt wurde, übernahm die Kontrolle über Medien und Schlüsselministerien. Schrittweise demontierte und entmachtete er Präsident Gorbatschow, der am 25. Dezember 1991 als Präsident der UdSSR zurücktrat und die Amtsgeschäfte