Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland. Arthur Holitscher

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Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland - Arthur Holitscher gelbe Buchreihe

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Wrangels in Südrussland gehabt.

Grafik 107

      Nestor Machno – Нестор Іванович Махно – 1888 – 1934

      Als Entgelt für seine Hilfe forderte er und wurde ihm gewährt: die Befreiung der um ihrer Gesinnung willen eingekerkerten Anarchisten und die Wiederherstellung der Rede- und Pressefreiheit in näher bezeichneten Gebieten Südrusslands.

      Ein Gerücht, wie gesagt.

      * * *

      Die Wahrheit! Wer es sich leicht machen wollte, könnte Ziffern an Ziffern reihen. Aber stülpe die ganze Statistik um – findest du in dem Haufen auch nur ein Körnchen Wahrheit? Die Naphthaproduktion bildet die Grundlage des russischen Verkehrswesens, aller inneren Möglichkeiten für den wirtschaftlichen Aufbau Russlands.

      Rückte Wrangel in den letzten Monaten 100 Werst vorwärts, so versiegte die Quelle; wurde er 200 Werst zurückgeworfen, triumphierte der Statistiker. Ähnlich ging es mit der Baumwollproduktion und der Belieferung der Textilzentren durch Turkestan. Wir fuhren, durch die Statistik deprimiert, eines Tages aus Moskau nach dem Fabrikort Iwanowo-Wosnessensk im Gouvernement Wladimir. Wir wussten, dass dort die Fabriken eben wieder geöffnet waren, um vor Beginn des Krieges aufgestapelte Rohstoffe zu verarbeiten.

Grafik 109

      Baron Pjotr Nikolajewitsch Wrangel – Барон Пётр Николаевич Врангель

      1878 – 1928

      Als ich eine Woche später nach Moskau zurückkehrte, berichteten mir Delegierte der Turkestaner Sowjets, die in meinem Hause untergebracht waren, dass tags zuvor einige hundert Waggons mit Baumwolle aus Turkestan nach den nördlichen Gouvernements abgegangen seien. In den offiziellen Zeitungen Russlands begegnet man immer häufiger Aufsätzen, die gegen die Lügenwissenschaft der Statistik zu Felde ziehen, allen Ernstes die Einstellung statistischer Untersuchungen beantragen, nicht etwa, weil man die Not des Landes verschleiern müsse, sondern im Gegenteil, weil die Not den Menschen durch die Mittel der Statistik nicht als ein bald vorübergehender Zustand dargestellt werden dürfe. Eine merkwürdige Tafel wird mir stets vor Augen stehen, wenn ich mich jemals noch an pathetische Zahlen stoßen werde im Leben. Diese Tafel war im Garten des Narkompross, d. h. des Volkskommissariats für Volksaufklärung und Erziehung aufgestellt. Mit dieser Holztafel würde ich, ginge es nach mir, sofort in dem kalten Empfangszimmer Lunatscharskis, des Volkskommissärs, einheizen.

Grafik 111

      Anatoli Lunatscharski – Анатолий Васильевич Луначарский – 1875 – 1933

      Eine graphische Darstellung wies in schwarzen, dann in roten Strichen und Säulen Rubelmengen, nämlich für Zwecke der Volkserziehung ausgeworfene Rubel in den Jahren von 1900 bis 1920 auf. Das Erziehungsbudget von 1900 war ein kleiner waagerechter Strich von der Dicke eines Fingers. 1904 war's der Finger eines kleinen Kindes geworden, so wenig war für den Zweck im Staatsbudget vorgesehen. 1910 war der Finger, wenn ich mich recht entsinne, der Finger eines normalen Bauern, aber immerhin noch ein Finger. 1918 schoss plötzlich eine rote Säule bis zur Mitte der Tafel in die Höhe, das war schon nach der Oktoberrevolution. Eine zweite rote Säule vom Jahre 1920 erreichte aber bereits den höchsten Rand der Tafel. Kein Mensch, der sich im Narkompross auch nur eine Stunde aufgehalten hat, wird das Ungeheure, das über die Jahrhunderte hinaus Gültige und Wirkende leugnen, das die Bolschewiki für die Erziehung des russischen Volkes geleistet haben. Wozu dieser veraltete schwindelhafte Behelf der graphischen Darstellung von Rubelauslagen? Jedes Kind weiß ja, dass die Kaufkraft einer Million Rubel 1920 der Kaufkraft von 1.000 oder gar 500 unter dem letzten Zaren entspricht. Fort mit der Statistik...

      Aus Gegenwärtigem, Künftigem, aus der Gesinnung und der Leidensfähigkeit der Massen, aus meinem Gefühl, meinem Verstand, der Erfahrung meines ganzen Lebens, die mir Theorien, Menschen, Ergebnisse durchleuchtet, muss mir die Wahrheit über Sowjet-Russland erstehen. Ich setze mich hin, um mein Buch zu schreiben. Gott helfe mir.

      * * *

      Das Arbeiter-Volk

       Das Arbeiter-Volk

      Es ist oft gesagt worden, dass der Ausspruch von Marx: das Land mit dem höchst entwickelten Kapitalismus sei berufen, zuerst die proletarische Revolution siegreich durchzuführen, sich nicht bewahrheitet habe.

Grafik 26

      Karl Marx

      Denn gerade Russland, das Agrarland mit einem nur in den ersten Stadien befindlichen Industriekapitalismus hat die proletarische Diktatur zum Siege geführt. Ein anderer Ausspruch aber von Marx hat sich als wahr und folgerichtig erwiesen: dass nämlich das organisierte städtische Proletariat vor allem berufen sei, das Rückgrat jeder antikapitalistischen Revolution zu bilden. (In Deutschland haben die Kieler Matrosen, d. h. organisierte Metallarbeiter das Gebäude des Imperialismus zu Falle gebracht.)

      Der organisierte Arbeiter, den Marx meint, ist aber nicht nur der Teil des klassenbewussten Proletariats, der den Sinn des Sozialismus erfasst hat und das proletarische Wirtschafts- und Verwaltungssystem begreifen, stützen und ihm zum Siege verhelfen muss, sondern vor allen Dingen ruht auf ihm die Pflicht, einen eben zertrümmerten Apparat durch eisernen Fleiß aufzubauen und alle nichtorganisierten, nicht klassenbewussten, alle unwilligen Elemente, die die neu aufzubauende Organisation auf die Dauer nicht entbehren und von sich abhalten kann, zu kontrollieren, zu disziplinieren, anzufeuern, wenn es sein muss zu unterdrücken.

      Das Problem des Kommunismus ist: arbeiten; mit vollster Hingabe, unter Anstrengung aller Kräfte auf eine nicht mehr dem kapitalistischen Zwang der Selbsterhaltung, sondern dem freien menschlichen Streben nach Hingabe an die Gemeinschaft unterworfene Weise arbeiten. Das Problem des bolschewistischen Aufbaues, der Diktatur des Proletariats beruht darauf, dass mit einem wuchtigen Griff, einem harten Zupacken, Umbiegen und Abbrechen zugleich mit dem Kapitalismus der Trieb des Eigennutzes, der Habgier vernichtet werde und die Produktion, die Arbeitswütigkeit dabei nicht nur keinen Schaden erleide, sondern durch unerhörte Opferwilligkeit, angespanntes Pflichtbewusstsein auf dem eben zertrümmerten Gebäude der neue Zustand auferstehe. Es ist also, wie man sieht, ein psychologisches Problem. Es ist kein rein ökonomisches, sondern ein Gesinnungsproblem. Es ist ein Problem, bei dem die Psychologie der Massen wie des Individuums eine große Rolle zu spielen hat, eine entscheidendere Rolle vielleicht als die Routine.

      Unter welchen Bedingungen nun hat der russische Kommunismus dieses verhängnisvolle Experiment begonnen? Er fand eine durch 16 Jahre Krieg geschwächte, verwahrloste und demoralisierte Menschenmasse vor, einen total verlotterten Produktionsapparat, einen erschrecklichen Mangel an den notwendigsten Rohstoffen. Fortwährende Bedrohung durch den an den Grenzen des Landes sich düster zusammenballenden Weltkapitalismus, der, der ungeheuren Gefahr bewusst, immer neue Heere vorwärts schob, den ganzen papierenen Apparat der Feindseligkeit, der Verleumdung, der Verdächtigungen in ein rasendes Tempo versetzte, der durch tausend unterirdische Kanäle Zwietracht, Verrat und Ärgeres in das hart geschlagene, wie eine Festung blockierte Land sandte. Aber schlimmere Hindernisse noch als diese rein äußerlichen erwuchsen dem Bolschewismus und seinen Führern aus den seelischen Vorbedingungen der Menschen, die sie fanden, um mit ihnen ihre Ideale aufzurichten. Ein Volkskommissar erklärte mir mit traurigem Lächeln: der russische Arbeiter habe in den Zeiten vor der Oktoberrevolution zu wenig kapitalistische Prügel

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