Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland. Arthur Holitscher

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Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland - Arthur Holitscher gelbe Buchreihe

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seien die Litauer, die Polen und die Juden.

      Es gibt Leute, die den Bolschewiki den Vorwurf machen, dass sie mit einem ungeeigneten Volkskörper ein so radikales Experiment gemacht hätten. Und es sind nicht zuletzt die aufrichtigen Sozialisten, die diesen Vorwurf erheben; denn sie befürchten beim Scheitern dessen, was sie das bolschewistische Experiment nennen, ein weltweites Erstarken des Kapitalismus und eine Diskreditierung des sozialistischen Gedankens auf unabsehbare Zeit.

      Nach drei Monaten, die ich in Russland verbracht habe, kann ich ein ähnliches, wenn auch viel leichteres Bedenken nicht von mir weisen. Das Volk ist müde, der Arbeiter entnervt, der Kapitalismus hat an der Gesinnung der Menschen, an dem Trieb zur Gemeinschaft Jahrtausende lang gesündigt, und der treu ergebenen opferwilligen Genossen sind verhältnismäßig wenige. Die Opferwilligkeit dieser Treuen und Gerechten führt sie – an den roten Fronten – zur Preisgabe ihres Lebens und damit zur Vernichtung der wesentlichen und wichtigen Stütze der Gesinnung bei den schwankenden Massen und der Kontrolle aller der Disziplin Unfähigen, bewusst das Getriebe Zerstörenden.

      * * *

      Ich habe einige Fabriken besichtigt, in denen ich die Produktionsweise des heutigen Russlands, fragmentarisch zwar, wie es sich von selbst versteht, aber doch in seinen Konturen zu verfolgen vermochte. Es waren dies: eine Textilfabrik in der Nähe Moskaus, eine Kattunfabrik in Iwanowo-Wosnessensk, außerdem Fabriken verschiedener Art in Petersburg, Werkstätten, Bekleidungsindustrien, Brotfabriken usw. In mancher Fabrik fanden wir Rohstoffe vor, die noch aus der Zeit vor dem Kriege stammten. In anderen lag schon neues Material aus den unerschöpflichen Vorratskammern des weiten Landes bereit, jedoch wurden da auch Verarbeitungsstoffe verwendet, die die Blockade nicht herein ließ, z. B. Farben für den Musteraufdruck des Kattuns, die im Frieden aus Bayern importiert wurden, und deren Versiegen die Fabrikation wieder vor ein schwieriges Problem stellen wird.

      Die Fabriken, die wir sahen, waren bereits in der Zeit vor dem Kriege erbaut und eingerichtet worden. Alles, was wir zu beobachten hatten, um das Wirken des neuen Arbeitssystems zu erkennen, war: in welchem Zustand sich die Fabrik befand, auf welche Weise man die vorhandenen Maschinen und Stoffe behandelte, seit der Arbeiter selber Herr des Betriebes geworden war, und zuletzt das Wichtigste: auf welche Art man den zugrunde gehenden Apparat, die abgenutzten Maschinen, die unersetzbaren Maschinenbestandteile arbeitsfähig erhielt, durch sorgfältige Behandlung, durch Erfindungsgabe, durch Hingabe und Verständnis für die Notwendigkeit der Produktion, nicht nur für die äußeren Bedürfnisse des Volkes, sondern für die Stärkung und Aufrechterhaltung der großen politischen Idee.

      Ich bedaure es sehr, dass wir keinen Kodak zur Hand hatten, als wir die große Tuchfabrik in der Nähe von Moskau besuchten. Sie fabrizierte Militärtuch, außerdem Tuche für Männerbekleidung und das sogenannte „technische Filztuch“ für die Papierfabrikation. Die Herstellung dieses letzteren – eines schweren weißen Filzes von zwei Finger Dicke, der eine endlose Rolle darstellt – erfordert eine bestimmte Maschine zum Aufrauen des Stoffes. Diese Maschine heißt Rollkardenmaschine und stellt einen Zylinder aus Metall dar, an dem distelförmige biegsame Stachelspulen befestigt sind. Das Tuch wird über diese Disteln gezogen, die die Fasern des Tuches aufrauen. Die Maschinen, die aus Bury in England bezogen worden waren, waren nicht mehr zu gebrauchen. Die Arbeiter in der Fabrik zimmerten nun aus Holz ähnliche Zylinder zusammen und befestigten an ihnen wirkliche Disteln, die aus einem entfernten Gouvernement herbeigeschafft und natürlich einer raschen Abnutzung ausgesetzt waren. Diese Maschine, primitiv, naiv, wie von irgendeinem Robinson Crusoe zusammengesetzt, kam mir als rührendes Symbol der Not und der Tugend des neuen Russlands vor.

      Ich besuchte diese Fabrik mit dem ehemaligen Volkskommissar der ungarischen kommunistischen Regierung, dem ausgezeichneten Volkswirtschaftslehrer Professor Varga.

Grafik 37

      Varga Jenő – 1879 – 1964

      Wir fuhren unangemeldet dort hinaus und konnten einen genauen Einblick in das Getriebe so der Arbeit wie der Verwaltung gewinnen. Von 6.100 Spindeln arbeiteten zurzeit nur 3.000. 1.600 Arbeiter lebten mit ihren Familien auf dem Gebiet um die Fabrik. Viele Maschinen standen still, weil es an Werkzeugen mangelte, die fehlenden Bestandteile zu erneuern. So z. B. musste der endlose Filz, von dem ich sprach, da die Maschinen zum Zusammenweben des Filzes nicht funktionierten und nicht zu ersetzen waren, von Hunderten von Arbeiterinnen zusammengewebt werden. Da saßen sie nun auf langen Bänken in einer Reihe und fügten mühselig Faden um Faden der beiden Enden des Tuches zusammen. Eine unendlich monotone und mühselige Arbeit, bei der es zu vermeiden war, dass Knoten in das Tuch gelangten, weil dann das Papier, das über diese Tuche laufen muss, natürlich zerrissen wäre. Mir fiel bei dieser Verrichtung ein Wort ein, das ich in Moskau gehört hatte: „Wenig Maschinen, viel Menschen – viel Maschinen, wenig Menschen. Unser Problem ist einfach: wir haben enorme Mengen Menschen, wir brauchen die Maschinen nicht.“

      Die Arbeiterinnen dieser Fabrik hatten pro Tag ein Minimum von 7½ Arschin Gewebe abzuliefern, erhielten dafür einen Minimaltagelohn von 121 Rubeln 20 Kopeken. Um die Produktion zu heben, wurde ein Prämiensystem eingeführt, welches die Bezüge bis zu 400 Prozent des Lohnes steigern konnte. Zu Zeiten der erhöhten Produktionsnotwendigkeit wurden 40 Überstunden monatlich bei 25 monatlichen Achtstundentagen geleistet. Vor der Einführung des Prämiensystems hatte bei den männlichen Arbeitern die tägliche Produktion einen Durchschnitt von 12 Arschin betragen, nach der Einführung des Prämiensystems betrug der Durchschnitt 15 bis 17 Arschin. Jeder Beamte und Arbeiter hat pro Kopf seiner Familie Anspruch auf 11 Szazn Landes zur eigenen Bebauung im nächsten Umkreis der Fabrikniederlassung. Das hatte seine Vorzüge und Nachteile. Da die Lebensmittelbelieferung oft eine gänzlich ungenügende war und zumal die Arbeiterinnen vor Unterernährung und Müdigkeit kaum mehr zu arbeiten vermochten, durfte man nichts dagegen haben, dass sich ein Teil des Betriebspersonals halbe Tage lang unentschuldigt auf den Feldern umhertrieb, um Rüben, Kartoffeln und andere Erdfrüchte anzubauen, zu pflegen und einzuheimsen. Gegen diese notgedrungene Sabotage der Produktion half nur das mechanisch erhöhte Prämiensystem. Doch war die Stimmung unter der Arbeiterschaft eine vorzügliche. Sie wussten ja, dass etwas sich geändert hatte, dass sie für sich arbeiteten, und das half ihnen über manche Entbehrung, Müdigkeit und Kummer hinweg.

      Eine Schar hübscher, gut gekleideter und fröhlicher Kinder stand um unser Automobil, als wir kamen und gingen. Im Klubzimmer, in den Speisesälen, in dem Kinderklub der Arbeiterheime hingen Bilder und Fahnen mit Wahlsprüchen an den Wänden; ein Theater sah man, dessen Dekorationen von den Arbeitern selbst gemalt worden waren. Das Programm der letzten Aufführungen zeigte Stücke von Tschechow und Tolstoi. In einem kleinen Atelier standen naive Ton- und Holzskulpturen, die begabte Arbeiter in ihren Mußestunden ausgeführt hatten. Ein Sanatorium mit vorzüglich gehaltenen Räumen für Operationen, Wöchnerinnenstuben und Apotheke wies erstaunlich gut funktionierende Einrichtungen auf, der Oberarzt verfügte sogar über chirurgische Geräte; wie uns im Vertrauen mitgeteilt wurde, waren diese durch den Schleichhandel erstanden; auch war, was in Russland noch seltener ist, Chloroform vorhanden.

      Im Betriebsrat saßen nur Arbeiter; kein Beamter. Der Vorsitzende war Kommunist. Doch ist das nicht unbedingte Regel. Es gibt Fabriken, in denen kein Kommunist im Betriebsrat sitzt; nur war diese eben eine der wichtigsten in der Nähe Moskaus und stand in direktem Zusammenhang mit der Zentralstelle für Textilversorgung des Landes. Uns hatten zwei Genossen begleitet, ein älterer, mit der Kontrolle dieser Fabrik im Moskauer Textilkomitee beauftragt, und ein jüngerer, der im Zentrotextil, der obersten Stelle für die gesamte Produktion des Reiches, die verantwortungsvolle Stelle des Leiters der gesamten Wollabteilung innehatte. Beide Genossen waren ehemalige Angestellte der großen Fabrik und standen noch in einem freundschaftlichen und vonseiten des alten, expropriierten Besitzers patriarchalischen Verhältnis zu ihrem ehemaligen Arbeitgeber.

      Weniger günstige Eindrücke hatten wir, als wir im Büro der Fabrik mit den führenden Beamten zu sprechen anfingen. Der Leiter des Büros, ehemaliger Direktor der Fabrik,

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