Der unheimliche "Erste Diener des Staates". Walter Brendel
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Unter diesen Umständen wurden die Beziehungen zwischen Vater und Sohn unerträglich. Friedrich Wilhelm wollte den Sohn beugen.
Er ging dabei, wie kurz darauf aus einem Verhör Friedrichs erkennbar wurde, stufenweise vor. Der Kronprinz wurde „hart traktiert"; erst in Gegenwart des Kammerdieners, dann der Offiziere des königlichen Regiments und schließlich der Generalität. Seine Abneigung gegen den Sohn und seine Sorge um den Bestand der Monarchie waren so groß, dass er eine Abdankung Friedrichs ins Auge fasste und den jüngeren, 1722 geborenen August Wilhelm in jeder Beziehung vorzog. Später, in der Küstriner Haft, fasste Friedrich seine Jugenderlebnisse in einem Brief an Wilhelmine in dem Stoßseufzer zusammen: „Ich habe jetzt die bittere Erfahrung gemacht, dass ein feindlich gesinnter Vater das schlimmste auf Erden ist." Seine Rettung sah der junge Mann nur noch in der Flucht, über die er, wie er 1730 aussagte, „alle Tage fast neue Anschläge" machte.
Die Fluchtpläne Friedrichs verdichteten sich 1730. Angesichts des noch nicht aufgegebenen Gedankens einer Heirat mit der Prinzessin Amalie wollte er sich anfangs nach England wenden. Während eines Staatsbesuchs in Kursachsen am Hofe Augusts des Starken verhandelte der Kronprinz mit dem britischen Residenten Melchior Guy Dickens, der sich auf dem Wege nach England befand. Georg II. widerriet der Flucht. „Man würde alles tun, seine Schulden zu bezahlen", ließ er durch den gleichen Dickens übermitteln, „aber er sollte itzo nicht gedenken, wegzugehen." Nach dieser Absage dachte der Kronprinz an Frankreich als Fluchtziel. Er hoffte auf die gespannten Beziehungen zwischen Preußen und Frankreich. Der französische Geschäftsträger, an den er sich wandte, versprach ihm zwar eine gute Aufnahme, doch war das keineswegs eine bindende Zusage der Regierung. Und so wurden nacheinander auch Italien und die Niederlande in Betracht gezogen.
Schon das zeigt, wie abenteuerlich Friedrichs Plan war. Auch bei gespannteren Beziehungen hätte sich wohl kaum eine Regierung dazu bereitgefunden, dem preußischen Thronfolger Asyl zu gewähren, weil die außenpolitischen Folgen unübersehbar gewesen wären.
Friedrich Wilhelm I. beschrieb später, im Jahre 1731, wie er sich bei Gelingen der Flucht verhalten hätte. Den Sohn schreckte er mit dem Unglück der Mutter und der Schwester. Vor allem aber wäre er in Hannover eingefallen; nichts hätte ihn davon abhalten können, sollte er auch Leben, Land und Leute dabei aufs Spiel setzen. Wer wollte schon einen Krieg wagen, nur um den preußischen Thronfolger gegen seinen tyrannischen Vater zu unterstützen? So unüberlegt wie der Fluchtplan angelegt war, so dilettantisch wurde er ausgeführt. Im Sommer 1730 begab sich der König auf eine Reise nach Ansbach. Friedrich begleitete ihn. Am 5. August übernachtete die Gesellschaft in Scheunen in Steinsfurth, südlich Sinzheims. Friedrich glaubte, sein Vorhaben endlich ausführen zu können. Er hatte sich kurz zuvor in Ludwigsburg heimlich einen roten Rock schneidern lassen und damit bereits den Verdacht seiner näheren Umgebung hervorgerufen. Als er am frühen Morgen noch vor dem König aufstand und diesen Rock anlegte, beobachtete ihn sein Kammerdiener, der nichts Gutes ahnend sofort den Oberstleutnant Friedrich Wilhelm von Rochow benachrichtigte. Inzwischen war auch ein ins Vertrauen gezogener Leutnant mit den zur Flucht bestimmten Pferden gesehen worden. Rochow begab sich zum Kronprinzen, der den Vorfall später so schilderte: „Als Er kaum 10 Schritte aus der Scheune gewesen, habe Ihm der Obrist Lieutenant Rochow begegnet, und mit Ihm zu sprechen gekommen, Ihn auch über 1/2 Stunde aufgehalten, darüber der Tag angebrochen, und obwohl der Prinz von Ihm gesucht loszukommen, sei es doch nicht angegangen, wie denn die andern dazu gekommen. Aus der Flucht wurde nichts. Friedrich gab den Plan /war noch nicht auf; aber der König erhielt bald davon Kenntnis. Er ließ den Kronprinzen sofort verhaften, als man in Wesel preußisches Gebiet erreichte.
Friedrich Wilhelm I. reagierte auf den Fluchtversuch seines Sohnes als Despot. Der Kronprinz wurde unter strengster Bewachung auf die Festung Küstrin gebracht und dort unter außerordentlich harten Bedingungen in Einzelhaft gehalten. Sein Mitwisser Hans Hermann von Katte wurde gleichfalls inhaftiert, während Peter Christoph von Keith fliehen konnte. Der preußische König vermutete eine breit angelegte Verschwörung gegen seine Herrschaft. Er glaubte ausländische Mächte im Einvernehmen mit seinem Sohn. Immer wieder ließ er die Gefangenen darüber befragen, wer noch mit im Komplott gewesen sei. Als die Verhöre Kattes keine Anhaltspunkte für seinen Verdacht erbrachten, ließ er den Leutnant in die Folterkammer der Hausvogtei bringen und ihm die Instrumente zeigen.
Er befahl, falls nötig, Katte die Daumenschrauben anzulegen. Inzwischen waren weitere Verhaftungen erfolgt. Ende August hatte man auch den Kammerdiener Friedrichs in Gewahrsam genommen und auf Anordnung des Königs an Hand und Fuß gefesselt. Inhaftiert wurden ferner die Leutnants Johann Ludwig von Ingersleben und Freiherr Alexander von Spaen sowie die Potsdamer Rektorstochter Doris Ritter. Die drei hatten sich auch nach damaligen Rechtsvorstellungen keiner strafbaren Handlung schuldig gemacht. Es war einfach tödlich, in den Dunstkreis absolutistischer Gewalt zu geraten. Während Friedrich unter seiner eigenen Torheit, wie er den Fluchtversuch später nannte, litt, mussten Katte und die junge Doris Ritter weit härter dafür bezahlen, dass sie dem Kronprinzen Freundschaft und Mitgefühl entgegengebracht hatten.
Die grausame Lektion hatte Friedrich endgültig gelehrt, dass er sich unterwerfen musste. War er bis dahin ein junger Mann, der seine Individualität gegenüber dem autoritären Vater offen verteidigte, so begann er jetzt zu heucheln. Gehorsam mimend, versuchte er, den König zu hintergehen, mit List und Falschheit gegen ihn anzukommen. Das schreckliche Erlebnis seiner Jugend deformierte ihn und brachte Charaktereigenschaften zur Entfaltung, die später jedermann auffielen: Zynismus und Menschenverachtung.
Wenige Tage nach der Hinrichtung Kattes wurde der scharfe Arrest für den Kronprinzen aufgehoben. Friedrich Wilhelm verfügte, dass ihm „die ganze Stadt zum Arrest" werde. Gleichzeitig ergingen genaueste Vorschriften für die Lebensführung Friedrichs und der Befehl, ihn in der Kriegs- und Domänenkammer, der Provinzialverwaltung, zu beschäftigen.
Friedrich scheint zu dieser Zeit psychisch außerordentlich labil gewesen zu sein. Kammerdirektor Christoph Werner Hille, ein Beamter bürgerlicher Herkunft und mit bürgerlichem Selbstbewusstsein, der sich des Kronprinzen annahm, berichtete regelmäßig an Minister von Grumbkow über dessen Befinden. Während er am 18. Dezember 1730 melden musste, dass der Kronprinz zwei Tage lang sehr misslaunig gestimmt gewesen war, weil alle Unterwerfung bisher zu nichts geführt habe, schrieb er im gleichen Brief in einer Nachbemerkung: „Seine Königliche Hoheit sind lustig wie ein Buchfink", und er fügte hinzu: „Wüsste er alles, so würde ihm diese schöne gute Laune rasch vergehen; denn sie entspringt nur der Hoffnung auf ein baldiges gelinderes Los." Am 23. Dezember hieß es in einem anderen Brief wieder, dass Friedrich sehr misslaunig sei und bittere Klage darüber führe, dass er trotz aller Unterwerfung noch nicht die geringste Freiheit erhalten habe. Am 27. schließlich - Friedrich litt damals unter Fieberanfällen - teilte Hille mit: „Er (Friedrich) hat sich vorgenommen, alles ohne Klage zu leiden und sich wacker zu halten. Ich glaube, seine Absicht dabei ist mehr, den König ins Unrecht zu setzen, als sonst etwas." Von Hoffnung bis zur Verzweiflung und dem Bemühen um Standhaftigkeit schwankte damals die Gemütslage des jungen Mannes.
Die Unterwerfung hatte der König auch hinsichtlich der Prädestinationslehre verlangt. Den hingerichteten Freund noch vor seinem Fenster, musste Feldprediger Müller mit dem Kronprinzen über die Prädestination diskutieren. Dass Friedrich unter diesen Umständen formal abschwor und Besinnung zur Schau stellte, darf nicht verwundern. In Wirklichkeit war er nach wie vor von der Richtigkeit dieser Idee überzeugt. Am 18. Dezember schrieb Hille an Grumbkow, dass der Kronprinz mit dem Fatalismus eines Türken an sie glaube. Friedrich Wilhelm war dies schon vorher zu Ohren gekommen. Er hatte Anweisung gegeben, auf den Prinzen einzuwirken, und gleichzeitig von diesem verlangt, die Personen zu nennen, die ihm diesen „Irrglauben" beigebracht hätten. Der Prinz nannte Bücher, aber keine Namen. Als sich Friedrich Wilhelm damit nicht zufriedengab, bot Friedrich am 27. Dezember noch einmal seine Unterwerfung an und erklärte den Streit über die Prädestination zu einer rein philosophischen und spekulativen Sache. Da er einsehen musste, dass gegen den König nicht aufzukommen war, fügte er sich in der gleichen Frage zum zweiten