Blaues Feuer. Thomas Hoffmann
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„Lass mich!“ zischte er seine Schwester an.
„Steh schon auf, du Faulpelz!“
Ein paar Atemzüge lang versuchten Lene und Norbert, einander die Filzdecke aus den Händen zu reißen, dann gab Norbert nach und setzte sich auf. Sofort verzog er das Gesicht vor Schmerzen.
„Margit und ich haben schon längst jede einen Eimer Wasser geholt! Das Frühstück ist gleich fertig und du hast deinen Eimer immer noch nicht gebracht,“ schimpfte Lene ihren stöhnenden Bruder aus. „Du bist acht Jahre alt und kein Kind mehr! Geh, raus mit dir!“
„Ich hasse dich, Lene.“
„Da, nimm deine Fußlappen!“ triumphierte das hagere Mädchen. „Und putz' dir die Nase!“
Es war nicht so sehr seine Schwester Lene, die Norbert hasste, es war vielmehr der frühe Morgen selbst. Im Sommer ertrug er es noch, in aller Frühe mit nackten Füßen über die feuchten Wiesen zum Bach zu gehen. Dann lagen Urwald und Felsen zu den Seiten des Tals im Frühnebel verborgen. Wenn er zur Bachmitte watete, wo es tief genug war, um den schweren Holzeimer voll zu schöpfen, spielte Norbert das eisige Wasser um die Füße und die Kiesel im Bachbett drückten sich ihm in die schwieligen Sohlen. Wenn er dann mit dem vollen Eimer zurück zu den Hütten ging, wurden ihm die Füße ganz warm. Es war kein Ersatz für die Wärme unter seiner Decke, aber doch ein kleiner Trost, ein Fingerzeig, dass das Leben es nicht völlig schlecht mit ihm meinte.
Jetzt im Winter biss die Kälte durch die um seine Füße geschnürten Leinenlappen, wenn er dem glatten, ausgetretenen Pfad den Bach entlang folgte. Wolljacke und die um die Schultern geschlungene Filzdecke nützten nichts. Die Kälte kroch von unten durch seine Kleider hinauf. Der Bach war zugefroren und im klammen Nebel musste Norbert weit hinauf in die Felsen steigen, um an die Stelle zu gelangen, wo der Bach unter Eiszapfen hervor einen Felsabsatz hinabstürzte.
Der schmale Trampelpfad führte an dem Felseinschnitt vorbei, in welchem die Grotte der schwarzen Dame lag. Die Klamm vor der Grotte war von Schnee freigeräumt. Ein paar Kränze aus vertrockneten Herbstblumen lagen vor dem schwarzen Grottenschlund, daneben verfaultes Obst. Björn Feldnersohn hatte die Grotte entdeckt, als die Neuansiedlung an dem kleinen Zufluss der Gorn gerade gegründet worden war. Norbert schauderte, wenn er zu dem im Nebeldunst liegenden Höhleneingang hinübersah. Ein Gefühl wie von klammen Fingern kroch ihm über den Rücken den Nacken hoch, ganz ähnlich dem Gefühl, das er hatte, wenn die Großmutter ihm die Haare kraulte, seit sie tot war. Aber hier bei der Grotte war es grausig und das Herz begann ihm zu rasen. Hastig stieg er den steilen Pfad bachaufwärts fort von der Klamm.
***
Zum Frühstück saß die achtköpfige Hofgemeinschaft um den langen Esstisch in der Mitte der Wohn- und Arbeitsküche. Großmutters Stuhl am oberen Ende des Tischs gegenüber Vaters Platz stand unbesetzt. Ihr Platz war nicht eingedeckt. Nur die ersten Tage nach ihrem Tod hatte Leika noch gedankenlos wie gewohnt für sie mit eingedeckt. Großmutters Holzteller und Löffel blieben dann stehen und wurden erst nach der Mahlzeit mit dem restlichen Essgeschirr wieder abgeräumt.
Auf dem Frühstückstisch dampfte ein Topf Gerstengrütze. Hans Lederer als einziger aß Brot dazu, denn sie hatten nicht genug Korn, um den Winter über für alle zu backen. Aber er riss doch ein Stück vom Brot ab und legte es seiner Frau auf den Teller. Sigurt warf ihm still einen Blick zu, bevor sie wieder auf ihren Teller schaute. Es war ein ängstlicher Blick, fand Norbert. Mutter schien immerzu Angst zu haben.
Norbert schluckte den zähen Brei herunter, drehte sich Lene zu, die neben ihm saß, brachte seinen Mund nah an ihr Ohr und flüsterte: „Die schwarze Dame der Grotte ist ein Dämon!“
„Bert!“ kreischte Lene.
Und dann schrie sie über den Tisch: „Der Bert sagt schon wieder Sachen, die man nicht sagen darf!“
„Halt deinen Mund, Lene!“ fuhr Leika sie an. „Und du, Bert, hör auf, sie zu ärgern!“
Norbert rutschte ein wenig auf der Holzbank umher, um die Schmerzen in seinem Hintern zu lindern. Stumm löffelte er seine Grütze, zufrieden, sich an seiner Schwester gerächt zu haben.
***
Den ganzen Tag über arbeitete Norbert auf dem Hof, wie die anderen Mitglieder der Hofgemeinschaft auch. Als es zu dämmern begann, beeilte er sich, die letzten zwei Kiepen Holzscheite ins Haus zu tragen und neben der Herdstelle aufzustapeln, um anschließend noch den schweren Eimer mit den Küchenabfällen in den Schweinestall zu tragen.
Während er die Essensreste in den Trog schüttete, hinter dem die Scheine sich drängten, rief Lene draußen vor dem Stall: „Beeil dich, Bert. Trödel nicht so rum!“
Aber er blieb doch noch einem Moment am Verschlag stehen und sah den schnaufenden und grunzenden Schweinen zu, wie sie sich um die Küchenabfälle stritten. Es machte ihm Spaß, die schmatzenden Tiere beim Fressen zu beobachten.
Lene trat in der klirrenden Kälte ungeduldig von einem Bein aufs andere, als er aus dem Stall kam. Sie wickelten sich ihre Filzdecken fest um den Leib und huschten zwischen den Hütten durch den Schnee. Als sie an Kurt Morgners Haus vorbeikamen, deutete Lene auf eine Lücke zwischen zwei Holzstapeln unter dem Vordach.
„Der Oliver tuschelt schon wieder mit der Grete Morgner!“
„Warum denn nicht?“ fand Norbert.
„Das verstehst du nicht. Dafür bist du noch zu klein!“
Denkst du! dachte Norbert. Ich weiß, was Oliver am liebsten mit der Grete machen würde! Ich hab's doch bei Vater und Mutter oder Onkel Beorn und Leika nachts schon oft mitgekriegt. Ich bin schließlich kein Kind mehr!
Aber er sagte Lene nichts davon.
Als sie bei Lutz Torstensohns Scheune ankamen, sahen sie die siebenjährige Maja und ihren zwei Jahre älteren Bruder Horst von Martin Feldnersohns Hof her kommen. Lene stemmte das Scheunentor auf und die vier huschten hinein. Oben auf dem Heuboden hatten sich bereits zwei Jungen und ein Mädchen eingefunden. Norbert schnupperte den Heuduft, der ihn in der Nase kitzelte. Im Halbdunkel setzte er sich zwischen Liese und Horst in das wärmende Heu. Roderig, mit dreizehn Jahren der Älteste von ihnen, schob das Heu auf den Bodenbrettern zur Seite und entzündete einen Kienspan an den glühenden Kohlen, die er in einer Tonschale mitgebracht hatte. Im unruhigen Licht wurden die Gesichter der Kinder erkennbar.
Den Sommer und den Herbst über bis zum Winterbeginn, so lange noch kein Schnee lag, hatten die Wildenbrucher Kinder sich nach der Hofarbeit unten bei der Flussaue oder auf einer nahen Waldlichtung getroffen und die ein, zwei Stunden bis zum Anbruch der Nacht zusammen im Freien verbracht. Sie erzählten sich ihre eigenen Geschichten, welche die Erwachsenen höchstens deshalb noch kannten, weil sie selbst einmal Kinder gewesen waren, erklärten sich gegenseitig die Rätsel ihrer Welt und erforschten die Umgebung des Dorfs, überall Geheimnisse entdeckend. Sie nannten es „ihre eigenen Sachen machen“. Das Wort „spielen“ kam ihnen nicht in den Sinn.
Schnee und Winterkälte hatten