Blaues Feuer. Thomas Hoffmann
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„Sie hat das Ferkel gefressen und Smeta gleich mit!“ heulte Norbert.
Der Vater ging zum Brennholzstapel und griff sich einen kantigen Scheit.
„Hans, bitte!“ flüsterte die Mutter.
Leika streifte Norbert mit einem Blick und ging auf den Hausherrn zu. Hans Lederer sah ihr entgegen, als wollte er sie ebenfalls verprügeln.
Leika griff ihn am Arm. „Lass ihn. Warum willst du deinen Sohn zum Krüppel schlagen? Du siehst doch, dass er schon genug Seelenqualen leidet.“
Hans Lederer stand erstarrt. Langsam ließ er die Hand mit dem Holzscheit sinken. Mit zwei Schritten war Leika bei Norbert, zerrte ihn hoch und zog ihn hinter sich her in die Vorratskammer. Hinter der geschlossenen Tür kniete sie sich neben den zitternden, schluchzenden Jungen, fuhr ihm durchs Haar und presste ihn an ihre Brust, bis das hysterische Schluchzen verebbte.
„Rede nicht davon, hörst du?“ flüsterte sie.
„Aber es ist wahr, es ist wahr!“ weinte Norbert.
„Sie verstehen es nicht. Keiner von ihnen. Ich wollte es ja selbst nicht glauben.“
***
Die Wildenbrucher erzählten einander, Smeta sei ihrem Mann ausgerissen und in einen der Weiler jenseits des Gornwalds gegangen, weil sie kinderlos geblieben war. Ruth Feldnersohn behauptete, Smeta hätte ihr gegenüber einmal so etwas fallen lassen. Und Gerlinde Hüttner meinte, die Verena Methorst habe Smeta mit einem Bündel und Wanderstecken längs der Flussaue davonschleichen sehen, am Elbendorf vorbei. Verena sagte nichts dazu. Aber sie widersprach dem Gerücht auch nicht.
Wenn bei der Abendmahlzeit das Gespräch auf Smeta kam, legte Leika Norbert die Hand auf den Arm und rückte dicht an ihn heran. Sie beteiligte sich nicht, wenn die Mitglieder der Hausgemeinschaft einander beipflichteten, Smeta sei fortgelaufen. Hin und wieder warfen Mutter oder Margit Norbert ängstliche Blicke zu. Norbert schaute auf seinen Teller und kaute sein Essen. Er war froh über Leikas Händedruck auf seinem Arm. Es half gegen das Zittern, das ihn jetzt oft überkam. Smetas Schreie hallten ihm im Ohr. Nachts träumte er von ihren blutigen Händen. Und etwas Dunklem, Unsichtbaren, das ihn Nacht für Nacht schreiend auffahren ließ.
Lars Weidner ging fluchend und schimpfend durchs Dorf. An den Abenden saß er jetzt oft bei der Hofgemeinschaft Kurt Morgners, erzählte Kurt, wie er ihm bei der anstehenden Feldarbeit zur Hand gehen wolle und war freundlich zu Grete. Doch Kurt Morgner blieb nachdenklich.
„Ich werde niemals Lars' Frau!“ erklärte Grete laut im ganzen Dorf.
Oliver wurde rot, wenn er es mitbekam.
***
Der Regen wurde seltener und die Sonne trocknete den Schlamm zwischen den Hütten. Die Wildenbrucher Kinder trieben die Kühe und Schafe aus den Ställen auf die Wiesen jenseits des Bachs. Sie schlossen Wetten auf die gegeneinander kämpfenden Schafböcke ab.
Manchmal an den Abenden, wenn sie am Waldrand beieinander saßen, hauchten Maja oder Liese Norbert zu: „Erzähl von der schwarzen Dame. Was ist der Smeta passiert?“
Aber Norbert presste bloß die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Er versuchte, das Zittern zu unterdrücken, das ihn durchfuhr.
Das Frühlingsopfer an die schwarze Dame der Grotte wurde vorbereitet. Bereits Tage vor dem Fest schwärmten die Kinder von Schmalzkuchen und süßem Dörrobst. Norbert stahl sich davon und versteckte sich in einer Scheune. Die Gefährten sollten seine Weinkrämpfe nicht mitbekommen. Er biss sich in die Faust, um nicht zu schreien.
Am Tag des Opferfests verkroch er sich auf Lutz Torstensohns Heuboden. Er hörte den Vater fluchen und seinen Namen rufen, aber er kam nicht heraus. Keine Macht der Welt würde ihn vor den Schlund der schwarzen Grotte bringen.
Eines Tages werd' ich ein Krieger wie Beowulf. Dann geh ich zur Grotte zurück und erschlage die schwarze Dame. Und dann werd' ich Smetas Knochen in der Flussaue begraben und niemand kann mich daran hindern!
Den ganzen Abend über, während die Wildenbrucher feierten, und noch über Nacht blieb Norbert auf dem Heuboden. Er wälzte sich im Heu umher und hielt sich die Ohren zu, aber Smetas Schreie gellten ihm doch in den Ohren. Erst früh am nächsten Morgen schlich er sich in die elterliche Wohnküche zurück. Doch die Prügel, die er erwartet hatte, blieben aus. Der Vater blickte ihn schweigend an. Lene und Mutter sahen ängstlich zwischen Norbert und dem Vater hin und her. Norbert nahm stumm den Wassereimer und beeilte sich, zur Tür zu kommen, aber Leika trat ihm in den Weg. Sie strich ihm Grashalme aus den Haaren.
„Guten Morgen, Bert.“
Norbert sah ihr in die Augen und wusste, dass sie verstand. Und er erkannte an ihrem Blick, dass sie mit Vater gesprochen hatte. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals, musste schlucken und blickte zur Seite.
„Nun lauf schon!“
Er stolperte hinaus, um am Bach Wasser zu holen.
In bedrückender Stille versammelte sich die Hofgemeinschaft um den Frühstückstisch. Norbert kaute seine Gerstengrütze und blickte auf seinen Teller. Die Anspannung im Raum machte ihm Angst. Womöglich stand seine Bestrafung noch bevor.
Der Vater brach das Schweigen: „Übermorgen gehe ich nach Altenweil auf den Markt, Einkäufe machen.“
Es schien niemanden zu überraschen. Vater reiste sonst nur im Herbst zum Markt nach Altenweil. Norbert blickte sich verstohlen am Tisch um. Alle schienen etwas zu wissen, das ihm nicht gesagt wurde. Als der Vater ihn beim Namen rief, fuhr er zusammen. Der Ausdruck, mit dem der Vater ihn ansah, verwirrte ihn. Er kannte Vater wütend oder desinteressiert, aber nicht ernst.
„Norbert, du kommst mit. Wir gehen zum Kloster der Armen Brüder. Die sollen über dir beten.“
Der Bann war gebrochen. Alle redeten durcheinander. Mutter pries laut die Heilkraft der wundertätigen Ikonen der Armen Brüder. Lene holte zwei Schmalzkuchen aus ihrer Schürze hervor und schob sie Norbert hin.
„Die hab ich für dich aufgehoben.“
Norbert saß wie vom Donner gerührt. Er fragte sich, ob die wundertätigen Ikonen Gutes oder Böses bedeuteten. Eine Marktreise! Er war noch nie anderswo gewesen, als in Wildenbruch. Das Kloster machte ihm Angst. Aber schließlich riss er sich zusammen.
Ich will Krieger werden. Ich hab doch keine Angst vor Mönchen!
Er griff nach den Schmalzkuchen und stopfte sie in sich hinein.
„Danke, Lene.“
Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Nach dem Frühstück nahm Leika Norbert an der Hand und zog ihn hinters Haus. Sie blickte sich um. Niemand von der Hausgemeinschaft war zu sehen. Leika kniete sich hin, um mit Norbert auf gleicher Höhe zu sein. Sie schaute Norbert lange an. Er war überrascht, wie schön ihre Augen waren.
„Bis vorhin hab ich nicht gewusst, was er machen würde,“ flüsterte Leika.
Es war Norbert klar, dass sie