Blaues Feuer. Thomas Hoffmann
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Leika blickte Norbert fest in die Augen. Ihr Blick verunsicherte ihn.
„Vor den Mönchen brauchst du dich nicht zu fürchten. Sie werden dir eine Ikone, ein Bild hinhalten und Gebete sprechen. Das hat gar nichts zu bedeuten. Dein Vater und die Familie glauben, du hättest eine Krankheit, aber es ist keine Krankheit, Norbert. “ Sie sagte es sehr ernst. „Es ist eine Gabe. Mir kannst du es glauben.“
Norbert schämte sich ein bisschen unter Leikas Blick.
„Leika,“ versuchte er abzulenken, „warum darfst du Vater solche Sachen sagen? Warum prügelt er dich nicht?“
Ein warmes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich bin Heilerin, Norbert. Was sie oben im Reich eine weise Frau nennen.“
Verwundert starrte er sie an. „Kannst du hexen?“
Um Leikas Mundwinkel zuckte es. „Nicht so viel, wie ich wünschte... Aber jetzt Schluss mit dem dummen Geplapper!“
„Leika, ich glaub, es ist doch eine Krankheit. Ich hab immer dieses Zittern. Und Nachts träum' ich ganz böse.“
„Ich mache dir heute Abend einen Johanniskrauttee. Das wird dir helfen. Aber mit deiner Gabe hat das nichts zu tun.“
***
An diesem und dem folgenden Tag unternahmen die Wildenbrucher Kinder keinen Ausflug. Sie steckten die Köpfe zusammen und redeten vom Altenweiler Markt und dem Kloster mit seinen wundertätigen Ikonen. Keins der Kinder war je aus Wildenbruch hinausgekommen. In umso schillernderen Farben malten sie sich die fremde, wunderbare Welt jenseits des Gornwalds aus. Es kam Norbert vor, als reise er in ein Märchenland, wo den Menschen die gebratenen Tauben in den Mund flogen.
In der Nacht vor dem Aufbruch lag Norbert mit klopfendem Herzen auf seinem Lager. Mit der ersten Morgendämmerung sprang er auf. Sein Kopf war benommen von der durchwachten Nacht. Er schlich sich zur Herdstelle, wo Margit und Leika das Feuer schürten. Fröstelnd kauerte er sich ans Feuer und hoffte, dass ihm warm würde. Die Mutter kam mit einem Topf Gerstenschrot aus der Speisekammer. Sie fuhr Norbert rau durchs Haar. Dann zog sie ihn zu sich heran.
„Ich gebe dir eine bessere Hose und eine andere Schlupfjacke aus der Truhe. Die Altenweiler brauchen nicht zu glauben, wir wären Bettler.“
Betroffen blickte Norbert auf seine dreckstarrende Wolljacke und die zerrissenen Hosen. Alle wildenbrucher Jungs sahen so aus. Es wäre Norbert nicht in den Sinn gekommen, dass an seinen Sachen etwas auszusetzen sein könnte.
Beim Frühstück legte die Mutter ihm ein Extrastück Speck in die Grützeschale. Der Vater betrachtete kauend seinen Sohn über den Tisch hinweg. Norbert trug die sauberen Sachen, die Mutter ihm herausgegeben hatte. Hans Lederer nickte anerkennend. Nach dem Frühstück nahm Leika Norbert beiseite. Vater und Onkel Beorn gingen vors Haus, um dem Esel den Reisepacken aufzuladen. Leika drückte Norbert ein winziges Stoffbündel in die Hand. Etwas Hartes war darin. Norbert lugte hinein und starrte mit stockendem Atem auf zwei kleine Kupfermünzen.
„Das sind zwei Viertelkreuzer. Kauf dir ein paar Rosinenbrötchen auf dem Markt,“ flüsterte Leika. „Dein Vater braucht nichts davon zu wissen.“
„Danke, Leika!“
Norbert steckte sich die eingewickelten Münzen unters Hemd. Eine Gabe hatte offenbar auch unerwartet gute Seiten.
Der schwarzen Dämonendame werd ich's noch zeigen!
Vor dem Haus ließ Norbert Umarmungen der ganzen Hofgemeinschaft über sich ergehen. Mutter klammerte ihn fest an sich.
„Komm gesund wieder, Bert, mein Junge!“
Lene legte ihm eines der kleinen Holzpüppchen in die Hand, die Onkel Beorn ihr vorletzten Herbst geschnitzt hatte. Verdutzt sah Norbert sie an.
„Das ist Petra. Sie soll auf dich aufpassen, solange wir nicht beieinander sind. Damit du nichts anstellst. Und damit du dir auch die Nase abwischst, wenn dir die Rotze rausläuft. Und wenn du zurück bist, kann sie mir alles von der Marktreise erzählen.“
Hans Lederer sah ungeduldig zu seinem Sohn hinüber. Er hielt den Esel am Halfterstrick. In der Rechten trug er einen Wanderstecken. Mit dem wilden roten Haar und dem Vollbart von derselben Farbe um den entschlossenen Mund, der gefurchten, wettergebräunten Stirn und dem festen Blick seiner grauen Augen war Norberts Vater ein beeindruckender Mann, fand Norbert. Der Vater trug den dicken Reisefilzumhang mit der Metallfibel. Unter die Leinentücher um seine Füße hatte er Ledersohlen gebunden. Die Riemen um die Fußleinen waren bis zu den Knien um die Hosenbeine geschnürt. An Vaters Gürtel hing ein langer Dolch.
Norbert steckte das Püppchen in die Hosentasche. Lene überrumpelte ihn mit einem Kuss, bevor er zurückzucken konnte.
„Also Tschüss,“ flüsterte er ihr zu.
Dann rannte er dem Vater hinterher, der bereits den Weg zwischen den Hütten zum Dorfausgang eingeschlagen hatte.
2.
Der Vater schritt zügig voran, ohne sich nach Norbert umzusehen. Der Trampelpfad längs der Flussaue war feucht vom Frühnebel und Norbert musste aufpassen, dass er mit seinen nackten Füssen nicht ausrutschte, während er dem Packesel hinterhereilte. Morgendunst stieg vom sumpfigen Ufer auf. Erste Sonnenstrahlen brachen durch die Baumkronen. Norberts Herz klopfte wild.
Ich reise mit Vater auf den Markt!
Er konnte keinen anderen Gedanken mehr fassen.
Als sie sich der Anhöhe des Elbendorfs näherten, verdichtete sich der Nebel. Die Nebelschwaden um die Ruinen im Erlengehölz waren düsterer als sonst, fand Norbert. Der Pfad führte mitten hinein in die Nebelbank. Graue Schwaden quollen von der Anhöhe herab. Norbert blieb wie angewurzelt stehen. Oben auf der Anhöhe standen Gestalten im Dunst. Reglos schauten sie auf den Pfad herab.
„Norbert!“ Vaters Stimme klang harsch durch den Nebel.
Norbert stolperte den Pfad entlang.
„Da...“ Die Stimme versagte ihm und er musste schlucken. „Da sind Elben, Vater! Sie haben uns gesehen!“
„Glotz nicht in die Gegend! Bleib dicht hinter mir!“
Norbert hastete dem Vater hinterher. Der Esel schnaubte. Er machte einen Versuch, am Vater vorbei voran zu traben. Seine Flanken zitterten. Norbert hielt den Blick fest auf den Pfad gesenkt. Ein heiserer Flötenton hauchte den beiden Reisenden nach.
***
Sobald sie die Flussaue hinter sich gelassen hatten, verschwand der Nebel. Der überwucherte Pfad wand sich an der steilen Uferböschung entlang. Oberhalb der Böschung stand dichter Buchenwald. In den Baumkronen spielte Sonnenlicht.
Norbert schauderte noch immer beim Gedanken an die Gestalten auf der Anhöhe.
Sie wissen, dass ich in ihrem Dorf gewesen bin. Sie wollten mich nicht gehen lassen. Sie wollen mich holen!
Norbert biss die Zähne zusammen. Er lief dem