Elduria - Runa oder das Erwachen. Norbert Wibben
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Wie ihr das gelingen könnte, war unwichtig. Sobald sie die Amme im ersten Schritt gefunden hätte, würde ihr der nächste schon einfallen, überlegte sie mit dem Verstand einer Fünfjährigen. Sie schaute sich nicht zu ihrem bisherigen Heim um, sondern folgte voller Zuversicht der Spur.
Gegen Abend wurde sie von einem heftigen Unwetter mit Regen heimgesucht. Die Äste der großen Bäume ächzten unheimlich. Manchmal meinte sie, sie würden mit den nach unten fegenden Zweigen versuchen, sie festzuhalten. Mit schrillen Schreien wich sie jedes Mal aus. Obwohl sie unter dem Blätterdach des Waldes zuerst gegen die Wassertropfen geschützt war, wurde das bald anders. Der Wind schüttelte das Nass von den Ästen und immer mehr der schweren Tropfen fielen durch die Blätter hindurch zum Waldboden. Bereits nach kurzer Zeit war sie bis auf die Haut durchnässt. Sie blickte erschrocken zu Boden. Wie lange würde sie die Pferdespuren noch erkennen können? In dieser Richtung war sie erst zweimal durch den Wald gewandert. Da sie dabei von Atropaia begleitet worden war, hatte sie sich nicht vor den unbekannten Geräuschen geängstigt. Sie hatte auch nicht darauf geachtet, ob sich der Weg an manchen Stellen verzweigte. Diese Möglichkeit fiel ihr siedend heiß ein. Ob sie den Waldrand erreichen würde, bevor Dunkelheit sie umgab? Sie hastete ohne einmal zu rasten weiter. Es dauerte nicht lange, bis die Dämmerung Runa die Sicht nahm. Sie blieb stehen. Könnte sie hier übernachten? Der Boden musste so durchnässt wie sie selbst sein, überlegte sie. Deshalb verspürte sie kein Verlangen danach. Außerdem war sie unsicher, ob die Geräusche und Töne, die zu ihr herüberdrangen, nicht von gefährlichen Tieren verursacht wurden. Hatte Paia ihr nicht einmal von einem Drachen erzählt, der der Feind aller Kinder war? Das heftige Rauschen des Windes konnte gut von dessen mächtigen Schwingen stammen. Blieb sie an dem Ort, war sie vielleicht in kürzester Zeit ein Opfer dieses Untiers. Diese Gedanken drängten Runa weiterzulaufen. Sie war sich bewusst, dass sie versuchen musste, die bisherige Richtung beizubehalten. Sollten die Reiter auf einen anderen Weg abgebogen sein, würde sie das nicht mitbekommen. Sie betete stumm, dass das nicht so sein möge, und lief weiter. Da der Regen inzwischen aufgehört hatte, wurde ihr dadurch zumindest wieder etwas warm.
Nach zwei Stunden vergeblicher Suche kam sie ans Ende des Waldes. Ab hier führte ein schmaler Schotterweg weiter. Die dunklen Wolken wurden vom Wind fortgeblasen. Im hellen Mondlicht konnte sie keine Abdrücke der Pferdehufe entdecken. Runa war dem Verzweifeln nahe. Sollte sie Atropaia jetzt noch finden können? Sie hoffte, bisher keinen Richtungswechsel der Reiter verpasst zu haben. Die Straße würde dagegen sicher schon bald zu einem Abzweig führen, eventuell sogar zu einer Kreuzung! Wie könnte sie dort erkennen, welche der möglichen Richtungen die richtige wäre. Runa wusste, das würde sie vor eine wichtige Entscheidung stellen.
Sie zuckte mit den Schultern. Sie konnte das nicht ändern und musste auf das Beste hoffen. Bis es so weit war, hätte sie die Reiter möglicherweise eingeholt. Das hoffte sie inständig, obwohl sie auch nach einer Stunde keine Hufabdrücke auf dem harten Untergrund erkennen konnte.
Runa weiß genau, wie zuversichtlich sie zu dem Zeitpunkt war, als schließlich der Morgen graute und eine wärmende Sonne in den hellblauen Himmel aufstieg. Ihr Bauch knurrte vor Hunger und sie vermochte kaum noch zu laufen. Die Füße waren inzwischen wund und zu Essen hatte sie nichts mitgenommen. Sie hatte sich nicht getraut, Zeit mit der Suche nach Essbarem zu vergeuden und deshalb lediglich etwas Wasser aus einem kleinen Bachlauf getrunken. Der hatte ihren Weg am Rande des Waldes gekreuzt.
Als der Pfad auf eine abknickende Straße stieß, entschied sich Runa, geradeaus auf der nun breiteren Straße weiterzulaufen. Spuren der Pferde waren nirgends zu erkennen, also meinte sie, besser die bisherige Richtung beizubehalten. Zwei weitere Stunden vergingen, in denen die Schritte des Mädchens immer kürzer und langsamer wurden. Runa verspürte neuen Antrieb, sobald sie von weitem eine Ortschaft erkennen konnte. Der von windzerzausten Büschen gesäumte Weg schlängelte sich eine kleine Anhöhe hinab. Sie wollte losrennen, um dort endlich die Reiter einzuholen. Was sie zustande brachte, war inzwischen nur noch ein Stolpern. Sie zwang sich aber mit eisernem Willen, weiterzugehen. Sie konnte jetzt keine Pause einlegen. Vielleicht vergab sie damit die letzte Chance, ihre Amme wiederzufinden.
Doch bevor sie den Ort Homarket erreichte, wurde sie von einer zerlumpten Bande gefangen genommen, die sie, wie aus dem Nichts, plötzlich umringte. Die Gruppe bestand aus vier Jugendlichen, zwei Jungen und zwei Mädchen, die davon lebten, Reisende auszurauben. So geschwächt wie Runa war, konnte sie weder weglaufen noch Widerstand leisten. Trotzdem schien sie Glück zu haben. Mit fünf Jahren war sie mehr als halb so jung, wie die, die sie auf den Boden geworfen hatten. Deshalb passten das Oberteil und die Hose keinem von ihnen und wurden ihr nicht genommen. Sie trug zwar nur einfache Kleidungsstücke, aber diese waren sauber und nicht geflickt.
»Bei der Göre ist nichts zu holen«, stellte der Junge fest, nachdem Runa durchsucht worden war. Er war offenbar der Anführer der Bande. »Sie besitzt weder Geld noch Schmuck. Lasst sie laufen.«
»Kommt nicht infrage!«, widersprach eine Rothaarige. Die Augen in ihrem recht hübschen Gesicht glänzten. »Wir könnten sie mit in den nächsten Ort nehmen, um dort einige Kupferstücke, möglicherweise sogar Silber herauszuschlagen. – Sie sieht mir ähnlich, oder etwa nicht?« Die anderen brummelten lediglich als Antwort. Nicht so der Anführer.
»Welche Gedanken ziehen durch deinen schönen Kopf, Katie? Du hast eine Idee, wie wir doch noch etwas Gewinn herausschlagen können, stimmt’s? – Und wenn ich mir das Kind genau anschaue, hast du nicht Unrecht. Die rotblonden Haare sprechen fast für sich. – Ja, ich bin sicher, es ist dein Schwesterchen!«
»Richtig, aber von meinem Plan muss die Kleine ja nichts wissen. Sie sträubt sich sonst mehr als nötig.« Das rothaarige Mädchen und der schwarz gelockte Junge traten etwas zur Seite und tuschelten miteinander. Runa glaubte, sich verhört zu haben. Weshalb sollte es wichtig sein, dass sie mit Katie verwandt ist. Und was hatte das damit zu tun, dass sie »verkaufen« gehört zu haben meinte? Menschenkinder werden doch nicht verkauft, oder bezog sich das vielleicht auf ihre Kleidung?
Wie sie heute und im Nachhinein weiß, hatte diese Bande von Wegelagerern tatsächlich vor, sie als Dienerin in dem Örtchen an eine reiche Familie zu verschachern.
Der Weg in den kleinen Ort dauerte länger als von den Strauchdieben erwartet. Die Füße des Mädchens waren derart wund gescheuert, dass es sich kaum noch zu bewegen traute. Zuerst trieb Katie es mit Schlägen weiter, bis es sich vor Schmerz auf den Boden setzte und die Prügel unter Tränen ertrug. Immer zwei von den Jugendlichen bildeten daraufhin abwechselnd mit ihren ineinander verschränkten Händen einen Sitz, auf den sich Runa setzen musste. Auch wenn das nicht aus Mitgefühl geschah, war sie den Vieren dankbar. Deren Absicht war lediglich, schneller von der Straße zu verschwinden. Je länger sie sich dort aufhielten, desto eher liefen sie Gefahr, als Landstreicher festgenommen zu werden.
Der Mittag war nahe, als sie die ersten Häuser erreichten. Die Wege füllten sich mit Menschen, die fragend zu den Jugendlichen blickten. Doch keiner traute sich, die zerlumpte Bande aufzuhalten. Denen erschien es offenbar zu gewagt, mit ihrer menschlichen Ware durch Homarket zu wandern und sie an verschiedenen Stellen anzubieten. Deshalb versuchten sie ihr Glück in dem ersten großen Haus auf dieser Seite des Örtchens. Das ist das Wirtshaus »Fuchs und Gans« gewesen. Der Anführer der Bande klopfte an und betrat zusammen mit Katie, die Runa hinter sich herzog, den Gastraum. Durch das Klingeln eines Glöckchens an der Tür wurde die Wirtin auf den Besuch aufmerksam. Es war bald Mittagszeit und sie hatte soeben erst den Riegel zurückgezogen.
»Wen haben wir denn da? Drei