Elduria - Runa oder das Erwachen. Norbert Wibben

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Elduria - Runa oder das Erwachen - Norbert Wibben Elduria

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sie ihn doch wenigstens einmal sehen müssen!

      Sie wird unsanft aus ihren Grübeleien gerissen, als sie von starken Fäusten gepackt und Richtung Eingang gestoßen wird.

      »Bringt sie in den Kerker. Ich werde mich später um sie kümmern! Jetzt ist zu allererst der Zustand von Owains Sohn wichtiger!« Das spricht die gleiche Stimme wie eben, doch Runa vermag sie keinem Gesicht zuzuordnen. Kann das der Anführer der Männer von damals sein? So wie der letzte Satz formuliert wurde, vermutlich nicht. Selbst wenn sie es schaffen könnte, sich zum Sprecher umzudrehen, würde das nichts bringen. Ihre Augen tränen unablässig und verhindern einen klaren Blick. Sie auszuwischen vermag sie nicht. Ihre Arme und Hände werden von starken Fäusten festgehalten.

      »Hoher Herr«, wagt sie, mit zitternder Stimme einzuwenden. »Ich wollte dem Jungen doch nichts Böses!«

      »Du wagst es, ihn so zu nennen? Er muss von Normalsterblichen mit »Syr« und vollem Namen angeredet oder benannt werden. Und der lautet Brendan ap Owain. Für deine Ungebührlichkeit wirst du zehn Peitschenhiebe bekommen!«

      Runa wird bereits vorwärtsgestoßen, als sich der junge Mann zu Wort meldet.

      »Einen Moment, Gwydion. Du tust dem Kind Unrecht! Ich verdanke ihm vermutlich mein Leben. Schau nur, dieser mächtige Brocken ist von oben herabgefallen und dies Mädchen hat mich aus der Gefahrenzone gestoßen.« Er wendet sich ihr lächelnd zu. »Ich danke dir. Gibt es irgendeinen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?«

      Runa überlegt. Soll sie einem ersten Impuls folgen und nach Atropaia fragen? Könnte das erfolgversprechend sein? Ihr fällt in diesem Moment auf, dass er nicht sie anblickt, sondern auf ihr S-förmiges Mal starrt. Durch die rüde Behandlung der Wachen war der Ärmel heraufgerutscht und hatte es freigelegt. Sein starrer Blick lässt sie unwillkürlich von der Frage absehen.

      »Nein. Ich freue mich, dir geholfen zu haben.« Das scharfe Einziehen der Luft kommt von Gwydion. Bevor der etwas zu äußern vermag, verbessert sich Runa. »Verzeihung. Ich wollte natürlich »Syr« sagen, Brendan ap Owain.«

      Beim glockenhellen Lachen des jungen Mannes entspannt sich das Mädchen. Die Tränen haben den letzten reizenden Staub aus Runas Augen gespült. Deshalb erkennt sie, wie er sie mit gekrauster Stirn mustert. Bei seinen folgenden Worten verkrampfen sich sofort ihre sämtlichen Muskeln.

      »Also ist dir mein Leben nichts wert, oder wie soll ich das sonst deuten?«

      »So ist das nicht gemeint, Syr. Ich habe lediglich schnell helfen wollen und erwartete keine Gegenleistung.« Wird sie jetzt doch noch in den Kerker geworfen? Nicht, weil sie diesen hochnäsigen Sohn des Mannes gestoßen hatte, der ihre Amme entführen ließ. Sondern, aus dem nichtigen Grund, dass sie von ihm kein großes Geschenk fordert?

      »Aha, dann nimm zum Dank dieses Silberstück.« Er nestelt mit hochgezogenen Augenbrauen und lächelnder Miene an seiner Geldbörse herum und reicht ihr das angekündigte Geldstück. Runa vermag nur mit Mühe die Frage zu unterdrücken, ob sein Leben von ihm so geringgeschätzt wird. Aber sie beherrscht sich und nimmt das Geld nicht. Es könnte ihr helfen, die Suche nach Atropaia fortzuführen. Sollte sie ihre Zunge nicht im Griff haben, käme sie womöglich doch noch ins Gefängnis. Von dort wären die Nachforschungen zu ihrer Amme unmöglich. Brendan lässt das Geldstück in ihre geöffnete Hand fallen und wendet sich an Gwydion. »Du musst sofort überprüfen lassen, ob das ein Attentat auf mich gewesen ist. Ich kann nicht glauben, dass eine der Zinnen ohne Nachhilfe herabstürzt.« Nach diesen Worten richtet er sich an die Wachen. »Ihr sorgt dafür, dass niemand ins Rathaus hinein oder herauskommt. Sichert auch den Hinterausgang.« An Runa verschwendet er keinen weiteren Gedanken. Seine Rettung durch ihr beherztes Eingreifen ist bereits in Vergessenheit geraten. Sie erstarrt erneut. Der Wortklang war fast ebenso hochmütig wie die Worte seines Vaters vor Jahren zu den Bewaffneten.

      Das Mädchen wandert in Gedanken versunken zum Wirtshaus zurück. Es berichtet von dem Vorfall mit der herabgefallenen Zinne, ohne etwas von ihrem Eingreifen in das Geschehen zu verraten. Die Wirtin nickt und akzeptiert, dass sie heute die Bescheinigung vermutlich nicht bekommen wird. Ein eventueller Attentatsversuch wird eine längere Untersuchung erfordern, auch wenn es noch früh am Tag ist. Runa fragt, ob Kaytlin einige Minuten ihrer Zeit erübrigen kann.

      »Das ist normalerweise kaum möglich. Da ich aber wegen der Verlängerung der Schankerlaubnis den Arbeitstag anders geplant hatte, kann ich dir kurzzeitig mein Ohr leihen. – Worum geht es denn?«

      Runa muss nicht überlegen, wie sie anfangen soll. Sie hat sich darüber auf dem Heimweg Gedanken gemacht und will ihr Vorhaben nicht auf die lange Bank schieben.

      »Kaytlin, du hast mich vor vielen Jahren hier aufgenommen. Dafür danke ich dir. Ich war damals fünf und hatte kurz zuvor meine Amme verloren. Das habe ich dir nie berichtet, da mir der Verlust zuerst zu nahe ging und später durch die tägliche Arbeit in den Hintergrund gedrängt wurde.«

      »Aha. Ich hatte deiner damaligen Behauptung sofort geglaubt, dass du nichts mit diesen heruntergekommenen Jugendlichen zu tun hattest. Dass du mit ihnen verwandt sein solltest, konnte ich von Anfang an nicht glauben. – Dass du deine Amme verloren hattest, tut mir leid. Wie ist das passiert?«

      »Es war die Folge eines Überfalls. Bewaffnete Männer drangen in unser Haus ein, aber das ist so lange her. Worum es mir geht, ist das: Ich glaube, eine Spur gefunden zu haben, die zu ihr führen könnte. Ich möchte mich beurlauben lassen, um das zu überprüfen.«

      Runa schaut mit ihren großen, blauen Augen die Wirtin an. Etwas unwirsch streicht sie dabei Strähnen ihrer rotblonden Haare hinter die Ohren, weil sie ihr ins Gesicht fallen. Sie hat sich nicht zu Kaytlin auf die Bank gesetzt und steht deshalb vor ihr. Sich neben sie zu setzen wäre ihr ungehörig erschienen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Für einen kurzen Augenblick erlebt sie erneut die Szene, in der sie sich vor Jahren zu Atropaia setzte, obwohl sie sich Sorgen um das erkrankte Kaninchen machte. Die Ereignisse laufen aufs Neue vor ihrem inneren Auge ab. Gleichzeitig mit dem Bersten der Tür klingt die Stimme der Wirtin in ihr Bewusstsein.

      »… du willst wie lange fortbleiben?«

      »Oh, Verzeihung. Ich habe soeben das Geschehen erneut durchlebt. – Das kann ich nicht vorhersagen. Ist es möglich, meine Ausbildung im Anschluss fortzuführen?«

      Die Wirtin schaut sie prüfend an.

      »Du bist sicher, wiederkommen zu wollen? Ich möchte nicht, dass du auf die schiefe Bahn gerätst. – Ich habe in den letzten Tagen die Rothaarige von damals in unserem Ort gesehen. Du weißt schon, die, die dich hierhergeschleppt hatte.«

      »Das stimmt. Ich habe sie auch getroffen, ohne dass sie mich erkannt hat. Und das ist gut so. Sie heißt übrigens Katie. Nein, zu ihr möchte ich auf keinen Fall.«

      »Das freut mich. Gut. Ich gebe dir auf unbegrenzte Zeit frei. Sobald du wieder heimkommst, kannst du die Ausbildung fortsetzen. Ich unterrichte Pulmoria.«

      Beim Wort »heimkommen« spürt Runa einen Stich in der Brust. Auch wenn sie sieben Jahre hier gelebt hat, fühlt sie anders. Ihr Heim befindet sich im Wald!

      »Ich packe meine Sachen zusammen und bin dann gleich weg.«

      »Komm vorher bitte kurz zu mir. Ich lasse dir von der Köchin etwas Proviant einpacken.«

      Runa rennt ins Dachgeschoss hinauf. Sie muss nicht lange entscheiden, was sie mitnehmen möchte. Sie besitzt eine wetterfeste Jacke und einen Rucksack. In den packt sie ihr Ersatzoberteil, eine Strickmütze und das Buch, das sie von der Wirtin zum zehnten Geburtstag bekommen hat.

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