Elduria - Runa oder das Erwachen. Norbert Wibben
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»Kann … soll ich …?« Das Mädchen wundert sich sehr, dass er stottert. Sonst redet er zwar nie viel, doch das hat sie bisher nicht bemerkt. Sie hat den Eindruck, dass er mit dem ringt, was er sagen möchte.
Runa spürt, wie sich ihre Brust zusammenzieht. Die Trennung von Atropaia geschah mit Gewalt und sie hatte keinen Einfluss darauf. Doch jetzt will sie freiwillig ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. Und offensichtlich nicht nur das. Es gibt hier gleichzeitig drei Menschen, denen sie offenbar nicht gleichgültig ist. Die dicke Köchin wischt sich einige Tränen aus den Augen. Sie umarmt das Mädchen und drückt ihm ein Esspaket in die Hand, das in ein Leinentuch gewickelt ist.
»Pass gut auf dich auf!«, schluchzt sie fast. Sie dreht sich um und stürmt nach nebenan in die Küche. Runa packt das Paket in den Rucksack.
»Hier sind noch zwei Äpfel. Die magst du doch so gern.« Kaytlin schnieft etwas, aber lediglich eine Träne verirrt sich in deren Augen.
»Ich danke dir«, antwortet Runa mit einem Kloß im Hals. Sie hatte nicht erwartet, diese Abschiedsgabe zu bekommen. Sie liebt die Apfelsorte, die einen süßsäuerlichen Duft abgibt und lange haltbar ist.
»Kann ich … mitkommen?« Dragons hellbraune Augen sind direkt auf das Mädchen gerichtet. Er schaut sie eindringlich und bittend an. »Für dich ist es draußen viel zu gefährlich. Du weißt nicht …« Er verstummt, setzt aber noch einmal an. »Ich könnte dir helfen, wenn du mich lässt.«
Runa fühlt bei seinem Anblick nicht zum ersten Mal eine unerklärliche Wärme im linken Arm und ein Kribbeln, das über ihren Rücken rieselt. Sie zögert. Meint er das Angebot ernst? Dann müsste er wie sie die Ausbildung zum … Das Mädchen stutzt. Welchen Beruf erlernt er eigentlich? Darüber hat sie sich bisher nie Gedanken gemacht. Er ist immer im Gasthaus und oft in ihrer Nähe gewesen. Sollte er keine Lehrstelle gefunden oder einen anderen Grund haben, keinen Beruf zu erlernen? Sie denkt kurz daran, dass er sich manchmal ungeschickt anstellt, um nicht tollpatschig zu sagen. Das geschieht jedoch nur dann, wenn er ihr schnell helfen will.
»Wenn du dir sicher bist, gerne. Wann bist du reisebereit?«
»Sofort.« Sein zufriedenes und zuversichtliches Lächeln lässt sie innehalten.
»Wie das? Hast du nichts mitzunehmen und musst niemandem Bescheid über deine Absicht geben?«
»Nein.« Mehr sagt er nicht. Die Wirtin nickt zur Bestätigung, dass sie damit einverstanden ist.
Auf der Straße
Runa hat ihr silbernes Geldstück tief im Rucksack, in einer geheimen Tasche verborgen. Sollten sie auf ihrer Wanderung von Strauchdieben überfallen werden, dürfen sie die Münze nicht finden. Sie denkt kurz an die Viererbande, die vor sieben Jahren ihre Habe durchsucht hatte. Heute könnten sie erfolgreich sein.
Ein Silberstück stellt einen nicht zu verachtenden Reichtum dar. Sein Wert entspricht hundert Kupferstücken, die jeweils für eine Mahlzeit im »Fuchs und Gans« zu zahlen sind. Mit dem Geldstück kann sie grob gerechnet die Nahrung für etwa sieben Wochen bezahlen. Sie bezieht automatisch Dragon in ihre Rechnung mit ein, da sie bei ihm noch nie Geld gesehen hat. Bis heute Morgen galt das genauso für sie. In dem Gasthaus erhalten sie schließlich keine Entlohnung in Münzen für ihre Arbeit. Die besteht vielmehr aus Essen, Unterkunft und Kleidung. Gelegentlich bekommen sie zusätzlich ein Geschenk, einen großen Apfel oder einen kleinen Kuchen. Dazu zählt das Buch über die Insel der Drachen, das Kaytlin Runa zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Die Wirtin wollte sich mit dieser außergewöhnlichen Gabe für die in fast fünf Jahren geleistete Arbeit des Mädchens bedanken.
Sobald die Kinder in Merion und Elduria dieses Alter erreichen, werden sie als Jugendliche bezeichnet. Sie beginnen ihr erstes Ausbildungsjahr. Die Lehrjahre sind je nach Berufsrichtung unterschiedlich lang, laufen aber in der Regel über drei Jahre. Wenn die erfolgreich abgeschlossen sind, gelten die dann mindestens Dreizehnjährigen als Erwachsene, mit allen Rechten und Pflichten.
Runa hat ihre Schritte automatisch in die Richtung gelenkt, aus der sie fünfjährig nach Homarket gekommen war. Sie vermutet, dass sie in ihrem ehemaligen Heim auf Hinweise stoßen wird, die bei der Suche nach Atropaia helfen werden. Sie überlegt noch einmal kurz, ob sie sich im Rathaus nach dem Aufenthaltsort von Owain erkundigen soll. Was sollte das aber bringen? Sie vermutet inzwischen, dass er ihre Amme in höherem Auftrag gefangen genommen haben wird.
Sie hatte sich vor ihrer Rückkehr von dem Amtsgebäude auf dem Marktplatz bei Umstehenden erkundigt, wer denn dieser Owain ist. Sie erinnert sich, erstaunte Blicke geerntet zu haben.
»Warum willst du das wissen?«, lautete eine leise Gegenfrage.
»Du musst vorsichtig sein. Du hast sicher auch gesehen, dass eine der Zinnen beinahe seinen Sohn getötet hat.« Der zweite Befragte hatte offenbar nicht mitbekommen, dass sie das Leben Brendans gerettet hat. Doch das erwiderte sie nicht.
»Warum sollte es gefährlich sein, sich nach ihm zu erkundigen?«
»Nun ja«, druckste der Mann herum, »nicht jeder mag ihn. Fragen könnten der Beginn zu einem Anschlag wie soeben sein.« Mit diesen unklaren Worten drehte er sich um und hastete davon.
»Wundere dich nicht über ihn«, raunte ihr ein älterer Mann zu. Der musste die Unterhaltung mitbekommen haben, obwohl der andere fast nur geflüstert hatte. »Er wurde bereits mehrfach verhaftet und mit fehlgeschlagenen Attentaten auf Owain in Verbindung gebracht. Seitdem verhält er sich möglichst unauffällig.« Runa schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Würde sie jetzt doch noch ins Gefängnis geworfen werden? Der Ältere lächelte sie beruhigend an. Er deutete ihre Reaktion richtig. »Keine Sorge. Fast alle hier haben gesehen, dass du diesem arroganten Brendan das Leben gerettet hast. – Sein Vater Owain ist der Anführer der Palastgarde und Oberbefehlshaber der Kriegstruppen von Elduria und Merion. In diese Position stieg er vor sieben Jahren für einen besonderen Dienst auf, den er unserer Herrscherin geleistet hat.« Weitere Fragen stellte das Mädchen vorsichtshalber nicht, auch wenn ihr der freundliche, ältere Mann nicht gefährlich zu sein schien.
Runa will lieber Hinweise in Atropaias Haus suchen, anstatt im Rathaus nachzufragen. Zumal sie nicht einmal weiß, wonach sie sich erkundigen soll. Direkt nach ihrer Amme zu fragen, würde sicher erfolglos bleiben. Sie schüttelt vehement den Kopf und erntet damit einen erstaunten Blick Dragons. Sie schaut ihn an, doch der Junge hält es nicht für nötig, den Grund des Kopfschüttelns zu hinterfragen. Wenn das Mädchen es wichtig findet, wird es ihn schon in seine Gedanken einbeziehen, ist er offenbar überzeugt.
Runa wiederum rätselt über ihren schweigsamen Gefährten. Warum wollte er sie unbedingt begleiten? Sie haben außerhalb der Arbeit keine gemeinsame Zeit verbracht. Wieso meint er dann, dass sie seine Hilfe benötigen könnte? Dabei hatte sie nicht einmal erwähnt, was sie vorhat. Sie weiß es ja selbst nicht genau. Und jetzt läuft er im Gleichschritt neben ihr, den Blick forschend voraus, aber immer wieder zu den Seiten und rückwärtsgerichtet. Das fällt ihr auf, sobald sie die Häuser hinter sich gelassen haben. Sollte er Gefahren vermuten, die dort auf sie lauern könnten? Vereinzelt kommen ihnen Menschen zu Fuß und auch der eine oder andere Reiter entgegen. Besonders dann, wenn die Pferde vorbei sind, dreht sich der Junge häufig nach hinten. Es sieht so aus, als irritierten ihn die leiser werdenden Tritte.
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