John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay

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John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - John Henry Mackay gelbe Buchreihe

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der Engländer. Aber dann erinnerte er sich, sie einmal in einem der deutschen Klubs gesehen zu haben, und er fügte hinzu:

      – Ich weiß nur, dass sie eine Deutsche ist, eine deutsche Sozialistin. Ehrgeizig, aber ein gutes Herz. Sie hat lange in Berlin für die Abschaffung der ärztlichen Untersuchung der Prostituierten gewirkt.

      Der wissbegierige Alte fragte weiter.

      – Und wer ist das, mit dem sie jetzt spricht?

      Der Engländer sah hin. Es war ein junger Mann, den er ebenfalls nur flüchtig kannte.

      – Ich glaube, das ist ein Dichter, sagte er. Sie lächelten beide.

      – Er hat ein soziales Gedicht geschrieben.

      – Haben Sie es gelesen?

      – O nein, ich lese nicht Deutsch.

      – Er sieht weder aus wie ein Dichter, noch wie ein Sozialist. Glaubt er, mit seinen Gedichten die Welt verbessern zu können? – Er wird eines Tages sehen, wie nutzlos sie sind und dass die Menschen zuerst Brot haben müssen, ehe sie an anderes zu denken im Stande sind. Wenn man nichts zu essen hat, hört die Poesie auf.

      Der Jüngere lächelte den Eifer des Alten, welcher ungestört fortfuhr, während Auban die Menge musterte:

       – Man kann die zartesten Liebesgedichte schreiben und wie ein Metzgermeister den blutigsten Scheußlichkeiten zusehen. Und man wird hingehen und eine Jubelhymne auf die „tapferen Krieger“ dichten, die Mörder, welche bluttriefend aus den Schlachten kommen. Man kann die „Leiden der Völker“ besingen und in der nächsten Stunde der „gnädigen Frau“ im Ballsaale die Hand küssen, die kurz vorher den Bedienten geohrfeigt hat. Aber worüber sprechen wir denn? Sagen Sie mir lieber, wer jener Mann dort ist?

      – Einer von unseren Parlamentskandidaten. Ein charakterloser Lump. Ein Schreier. Wenn er die Macht hätte, würde er ein Tyrann sein. Aber auch so verdirbt er genug.

      * * *

       Sie wandten jetzt beide ihre Aufmerksamkeit der Versammlung zu. Auban war noch immer in Gedanken versunken. Die Stühle auf der Empore hatten sich besetzt mit den Vertretern und Abgesandten aller Vereinigungen, welche das Massenmeeting einberufen hatten.

      Man sah einige Frauen unter ihnen. – Den Chair hatte ein blasser, etwa vierzigjähriger Mann in der Tracht eines Priesters der Hochkirche eingenommen. Er wurde mit Beifall begrüßt, als seine Erwählung zum Chairman mitgeteilt wurde. Auban kannte ihn, es war ein christlicher Sozialist, der seit langen Jahren unter den Armen des East End wirkte. Wegen seiner Gesinnungen war ihm das Recht der Ausübung seines Berufes entzogen worden. Die Kirche ist der größte Feind jedes Charakters.

      Er eröffnete jetzt die Versammlung. Er sagte, dass dieselbe aus Menschen der verschiedensten Lebensanschauungen zusammengesetzt sei, aus Radikalen und Antisozialisten so gut, wie aus Anarchisten und Sozialisten, die aber in dem einen Wunsche sich geeinigt hätten, gegen die Unterdrückung des Rechtes der freien Rede zu protestieren. Er sei kein Anarchist, wie die in Chicago Verurteilten, er habe eine starke Abneigung gegen ihre Doktrinen, aber er fordere für ihre Ausleger und Anhänger genau dieselbe oder eine noch größere Freiheit, wie er sie selbst – der Priester einer christlichen Kirche – für die Kundgebung seiner eigenen Ansichten für sich in Anspruch nehme. Für alle sei das Recht das gleiche, dem, was sie als Wahrheit erkannt hätten und für Wahrheit hielten, zu dienen, und darum verlange er im Namen seines Gottes und im Namen der Menschlichkeit die Freilassung dieser Männer.

      Als er geendet hatte, wurde eine große Anzahl von Telegrammen, Zustimmungsadressen und Briefen aus allen Gegenden Englands verlesen. Viele derselben wurden mit Jubel aufgenommen.

       Auban wusste, dass manche dieser Vereinigungen ihre Mitglieder nach Tausenden zählten; er hörte unter den verlesenen Namen einige von größtem Einfluss. Männer der Feder, deren Werke jedermann las – was taten sie alle, die ebenso wie er selbst von der Ruchlosigkeit jenes Urteils überzeugt waren? Sie beruhigten ihr Gewissen mit einem Protest. Was hätten sie tun können? Ihr Einfluss, ihre Stellung, ihre Macht – sie wären vielleicht stark und eindringlich genug gewesen, die Ausübung jener Tat unmöglich zu machen einer zum Bewusstsein gekommenen und allgemeinen Entrüstung gegenüber. Aber ihr Name und ihr Protest – er verhallte hier vor den wenigen wirkungslos. Auch sie waren die Knechte ihrer Zeit, sie, die ihre wahren Herrscher hätten sein können.

      Aus seinen Gedanken wurde Auban durch eine Stimme aufgerüttelt, welche er oft vernommen hatte. Neben dem Tische auf der Plattform stand eine kleine, schwarz gekleidete Frau. Unter der Stirne, welche halb von dichtem, kurz geschnittenem Haar wie von einem Kranze bedeckt war, leuchteten schwarze, begeisterte Augen. Die weiße Halskrause und das einfache, fast mönchische, lang niederwallende Gewand schienen einem vergangenen Jahrhundert anzugehören. Nur wenige aus der Versammlung schienen sie zu kennen; wer sie aber kannte, der wusste, dass sie die treueste, tätigste und leidenschaftlichste Vorkämpferin des Kommunismus in England war. Auch sie nannte sich Anarchistin.

      Sie war keine hinreißende Sprecherin; aber in ihrer Stimme lag jener Stahlklang unerschütterlicher Überzeugung und Ehrlichkeit, der den Hörer oft mehr packt als die glänzendste Vortragskunst.

      Sie gab ein Bild aller jener Ereignisse, welche in Chicago der Verhaftung und Verurteilung der Genossen vorhergegangen waren. Klar – Schritt für Schritt – zogen dieselben an den Augen der Hörer vorüber...

       Sie erzählte von dem Entstehen und Wachsen der Achtstundenbewegung in Amerika, von den Bemühungen früherer Jahre, den achtstündigen Arbeitstag bei der Regierung durchzusetzen; von ihren Erfolgen ... Sie erklärte, wie es gekommen war, dass die Revolutionäre von Chicago sich der Bewegung angeschlossen hatten, ohne sich über ihre Bedeutung und ihren eigentlichen Wert zu täuschen; von den unermüdlichen Bestrebungen der Internationalen Arbeiterassoziation; und wie jene Männer, welche jetzt ihren Tod vor Augen sahen, an die Spitze der Strömung getrieben wurden...

      Sie versuchte dann, jene ungeheure Aufregung zu schildern, welche den Maitagen des vorigen Jahres voranging: die fieberhafte Spannung in den Kreisen der Arbeiter, die erwachende Angst in denen der Ausbeuter ... die reißende Zunahme der Streikenden, bis zu jenem Tage, dem ersten Mai, der, von allen erwartet, die Entscheidung herbeiführen sollte...

      Dann ließ sie diese Maitage selbst vor den Augen der Versammlung emporsteigen: „– mehr als 25.000 Arbeiter legen an ein und demselben Tage ihre Arbeit nieder; in der Zeit von drei Tagen hat sich ihre Zahl verdoppelt. Der Streik ist ein allgemeiner. Die Wut der Kapitalisten ist nur mit ihrer Angst vergleichbar. Allabendlich werden an vielen Orten der Stadt Meetings abgehalten. Die Regierung entsendet ihre Büttel und lässt in eine dieser friedlichen Zusammenkünfte feuern: fünf Arbeiter bleiben auf der Stelle...“

      – Wer hat die Mörder dieser Männer zur Rechenschaft gezogen? – Niemand!

      Die Rednerin machte eine Pause. Man hörte ihre innere Erregung aus dem Klange ihrer Stimme heraus, als sie fortfuhr:

      – Am folgenden Abend wird von den Anarchisten auf dem Haymarket ein Meeting einberufen. Es ist ordentlich; die Ansprachen der Redner sind trotz dem Vorhergegangenen so wenig aufreizend, dass der Mayor von Chicago – bereit, bei dem ersten ungesetzlichen Wort die Versammlung aufzulösen – dem Polizeiinspektor bedeutet, er könne seine Leute nach Hause schicken. Aber stattdessen lässt dieser sie abermals gegen die Versammelten anrücken. In diesem Augenblick fliegt von unbekannter Hand eine Bombe in die Reihen der Angreifer. Die Polizei eröffnet ein mörderisches Feuer...

       Wer hat die Bombe geworfen? – Vielleicht die Hand eines Verzweifelten, der sich so gegen

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