John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay
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Indessen schien dieser endlich die Erklärungen verstanden zu haben, denn er schlug eine von der vorher genommenen völlig verschiedene Richtung ein. Er wandte sich dem Norden zu. Nachdem er noch zwei oder drei der gleich dunklen, schmutzigen und einander völlig gleichenden Straßen durchgangen hatte, befand er sich plötzlich in dem betäubenden Lärm einer jener Verkaufsstraßen, in denen die Bevölkerung der ärmeren Viertel am Samstagabend mit dem Lohn der vergangenen Woche ihre Bedürfnisse für den folgenden Tag einhandelt. Die Seiten der Straße waren besetzt mit zwei endlosen Reihen von sich dicht hintereinander drängenden Wagentischen und Gestellen, dicht beladen mit jedem von den tausend Erfordernissen des täglichen Lebens, und zwischen ihnen ebenso wie auf den engen Trottoirs an den geöffneten und füllten Läden vorbei, drängte und quetschte sich eine unruhige und feilschende Masse, deren Schreien und Lärmen nur von dem gellenden Durcheinanderrufen der anpreisenden Verkäufer tönt wurde. Die Straße war in ihrer ganzen Länge von dem flackernden Scheine unzähliger Petroleumflammen in eine blendende Helle, eine Helle, wie sie das Licht des Tages nie hierher brachte, getaucht; die feuchte Luft erfüllt mit einem dicken und qualmenden Rauch; der Boden übersät mit zertretenen Abfällen aller Art, welche das Gehen auf dem glitschigen, unregelmäßigen Steinpflaster noch erschwerten.
Der Arbeiter, der nach dem Wege gefragt hatte, war in das Gewühl hineingeraten und drängte sich durch, so schnell es ging. Er hatte kaum einen Blick für die rings aufgespeicherten Schätze: die Bänke mit den großen, rohen, blutigen Fleischstücken; die hochbeladenen Karren mit Grünkraut jeder Sorte; die Tische, voll von altem Eisen und Kleidern; die langen Reihen von aneinander gebundenem Schuhwerk, welche sich über ihm fort und über die Straße spannten; für den ganzen undurchdringlichen Wirrwarr des Kleinhandels, welcher ihn umtoste und umdrückte. Als sich unter dem Schimpfen der Menge ein Karren rücksichtslos durch das Gewühl stieß, nahm er die Gelegenheit wahr, hinter ihm herzugehen, und kam so schneller, als er gehofft hatte, an die Ecke der nächsten Kreuzstraße, wo sich das Leben wieder verteilte und einen Augenblick des Stillstehens ermöglichte.
Da, als er sich umsah, erblickte er auf der anderen Seite der Straße plötzlich Auban. Überrascht, seinen Freund so unverhoffter Weise und in dieser Gegend zu sehen, eilte er nicht sogleich zu ihm; und dann – als er schon die Straße halb schritten hatte – trat er in das Gedränge zurück, von dem Gedanken getrieben: Was tut er hier? – Er blickte in der nächsten Minute aufmerksam zu ihm hin.
Auban stand mitten in einer Reihe von halbbetrunkenen Männern, die den Eingang des Public-Hauses umlagerten, in der Hoffnung, von einem ihrer Bekannten eingeladen zu werden: – „Have a drink!“ Er stand da, etwas nach vorn gebeugt, mit beiden Händen auf seinen zwischen die Knie geklemmten Stock sich stützend und unverwandt in das an ihm vorbeitreibende Gewühl starrend, als warte er darauf, aus ihm ein bekanntes Gesicht auftauchen zu sehen. Seine Züge waren ernst; um den Mund lag eine scharfe Falte und seine tiefliegenden Augen hatten einen starren und trüben Blick. Seine glattrasierten Wangen waren mager und die scharfe Nase gab den Zügen seines schmalen und feinen Gesichtes den Ausdruck starker Willensfähigkeit. Ein dunkler weiter Mantel fiel nachlässig an der ungewöhnlich langen und schmalschulterigen Gestalt nieder, und als ihn der andere von der gegenliegenden Straßenecke so dastehen sah, fiel ihm zum ersten Male auf, dass er ihn seit Jahren nie anders gesehen hatte, als in demselben weiten Anzug von demselben bequemen Schnitt und derselben einfachsten, dunklen Farbe. Genau so schlicht und doch so auffällig war seine äußere Erscheinung gewesen, als er ihn – wie lange war es her: sechs oder sieben Jahre schon? – in Paris kennen gelernt hatte, und genauso unverändert wie damals mit denselben gleichen scharfen und trüben Zügen, die höchstens blasser und grauer geworden waren, stand er heute da drüben, nachlässig und unbekümmert in grübelnden Gedanken inmitten des sich hastenden und freudlosen Treibens des Samstagabends von Soho.
Da kam er auf ihn zu: starr geradeaus blickend. Aber er sah ihn nicht und wollte an ihm vorgehen.
– Auban! rief der andere.
Der Gerufene fuhr nicht zusammen, aber er wandte sich langsam zur Seite und sah mit einem leeren und abwesenden Blick in das Gesicht des ihn Rufenden, bis der ihn am Arm packte:
– Auban!
– Otto?! fragte der Angerufene da, aber ohne Erstaunen. Und dann, fast flüsternd, und in dem belegten, halb noch im Grauen belegten Tone des Erwachenden, der von seinem schweren Traume erzählt, leise, um ihn nicht zur Wirklichkeit zu wecken: „Ich dachte an etwas anderes: – an das Elend, wie groß es ist, wie ungeheuer, und wie langsam das Licht kommt, wie langsam ...“
Der andere sah ihn erstaunt an. Aber schon lachte Auban jäh erwacht auf, und in seinem gewohnten beherrschten Tone fragte er dann:
– Aber in aller Welt, wie kommst du aus deinem East End nach Soho?
– Ich habe mich verlaufen. Wo ist denn eigentlich Oxford Street? Dort, nicht wahr?
Aber Auban nahm ihn lächelnd an der Schulter und drehte ihn um.
– Nein, dort. – Pass auf: Vor uns liegt der Norden der Stadt, die ganze Länge von Oxford Street; hinter uns der Strand, den du wohl kennst; dort, wo du herkommst – du kommst doch von Osten? – ist Drury Lane, und das frühere Seven Dials, von dem du gewiss schon gehört hast. Seven Dials, die frühere Hölle der Armut; jetzt „zivilisiert“. Hast du noch nicht die berühmte Vogelhändlerstraße gesehen? – Sieh, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten, und machte mit seiner Hand eine Bewegung nach Osten hin: In diesen Straßen bis Lincolns Inn Fields drängt sich ein großer Teil des Elends von West End. Was glaubst du wohl, was man nicht geben würde, könnte man es ausmisten und nach dem Osten drängen? – Was nützt es, dass sie weite Straßen durchschlagen, genauso wie Haußmann, der Seinepräfekt, es in Paris getan hat, um den Revolutionen so leichter begegnen zu können, was nützt es? Es drängt sich nur dichter aufeinander. Es vergeht kein Samstagabend, an dem ich dieses Viertel zwischen Strand und Regents Street und Lincolns Inn, zwischen Strand und Oxford Street nicht schreite – es ist ein Reich für sich und ich habe hier reichlich so viel gesehen wie im East End. – Bist Du zum ersten Male hier?
– Doch, wenn ich nicht irre. War denn nicht früher der Klub hier?
– Ja. Aber näher an Oxford Street. – Übrigens wohnen hier eine Menge Deutsche – nach Regents Street zu in den besseren Straßen.
– Wo ist denn das Elend am schlimmsten?
– Am schlimmsten? – Auban dachte einen Augenblick nach.
– Wenn du in Drury Lane einbiegst – die Courts der Wild Street; dann das schreckliche Gewirr von fast zusammenbrechenden Häusern in der Nähe des Old Curiosity Shop, den Dickens beschrieben hat, mit den schmutzbedeckten Durchgängen; überhaupt die Nebenstraßen von Drury Lane, besonders im Norden, an den Queen Streets; und weiter hierher vor