John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay
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Auban ging langsam weiter. Er kannte dieses Leben zu gut, als dass es ihn noch verwirrt und betäubt hätte; und doch packte und fesselte es ihn immer wieder aufs Neue mit seiner ganzen Gewalt. Er hatte während dieser Jahre Stunden und Tage seinem Studium gewidmet, und immer und all fand er es neu und interessant. Und je mehr er ihre Strömungen, ihre Abgründe und ihre Untiefen kennen lernte, desto mehr bewunderte er diese einzige Stadt... Seit einiger Zeit war diese Zuneigung, welche mehr war als Anhänglichkeit und weniger eigentlich als Liebe, zu einer leidenschaftlich erregten geworden. London hatte ihm zu viel – weit mehr als dem Bewohner und dem Besucher – gezeigt; und nun wollte er alles sehen. Die Unruhe dieses Wunsches hatte ihn denn auch an dem heutigen Nachmittag hingestoßen auf das jenseitige Themse-Ufer, zu stundenlangen Wanderungen in Kennington und Lambeth – jenen Vierteln eines entsetzlichen Elends –, um ihn müde und zugleich entmutigt und erbittert zurückkehren zu lassen und ihm jetzt am Strand den Widerschein wie die Kehrseiten jenes Lebens zu zeigen.
Er stand nun an dem Eingang des dunklen und öden Tunnels, welcher unter Charing Cross durch auf Nortumberland Avenue zuläuft. Die schrillen und zitternden Töne eines Banjo schlugen an sein Ohr; eine Gruppe von Vorgehenden hatte sich zusammengeschart: in ihrer Mitte schlug ein Knabe in zerrissenem Karikatur-Kostüm und mit verrußtem Gesicht – wer hat die bizarren Gestalten dieser „Neger-Komödianten“ nicht schon an den Straßenecken Londons ihre lärmenden Singtänze aufführen sehen? – sein Instrument, während zu den Tönen desselben ein Mädchen mit jener mechanischen Gleichgültigkeit tanzte, die keine Ermüdung zu kennen scheint. Auban warf, indem er sich vorbeidrängte, auch in das Gesicht dieses Kindes einen Blick: Gleichgültigkeit und doch zugleich eine gewisse Ungeduld lag auf ihm.
– Sie ernähren ihre ganze Familie, die Armen, murmelte er. In der nächsten Minute hatte sich die Menge zerstreut und das kleine Paar sich zur nächsten Straßenecke durchgedrängt, dort Spiel und Tanz von Neuem zu beginnen, bis der Policeman sie forttrieb, der gehasste, der gefürchtete.
* * *
Auban durchschritt den Tunnel, dessen Steinboden von Schmutz übersät war und aus dessen Ecken eine verpestete Luft aufstieg. Er war fast leer; nur hin und wieder schlich eine unerkennbare Gestalt an den Wänden hin und an ihm vor. Aber Auban wusste, dass an nasskalten Tagen und Nächten hier, so gut wie an Hunderten anderer Durchgänge, ganze Reihen von Unglücklichen lagen, dicht aneinander und gegen die kalten Wände gepresst, und immer gewärtig, im nächsten Augenblick von dem „Arm des Gesetzes“ auseinander getrieben zu werden: Haufen von Kot und Lumpen, verkommen in Hunger und Schmutz, die „Parias der Gesellschaft“, die in Wahrheit Willenlosen... Und während er die Stufen am Ende des düsteren Ganges emporstieg, stand vor ihm plötzlich wieder jene Szene, welche er vor nun etwa einem Jahre an diesem selben Orte erlebt hatte, mit einer so erschreckenden Deutlichkeit, dass er unwillkürlich stehen blieb und sich umsah, als müsse sie sich leibhaftig vor seinen Augen wiederholen – :
Es war an einem feuchtkalten Abend, gegen Mitternacht, die Stadt in Nebel und Rauch wie in einen undurchsichtigen Schleier gehüllt. Er war hierhergegangen, um Einzelnen der Obdachlosen die wenigen Kupferstücke zu geben, welche sie brauchten, um die Nacht in einem der Lodging-Häuser, statt in der eisigen Kälte der Nacht, zu verbringen. Als er diese Stufen niedergeschritten war – der Tunnel war füllt mit Menschen, die, nachdem sie alle Stadien des Elends durchgemacht hatten, am letzten angelangt waren – sah er vor sich ein Gesicht auftauchen, welches er nie wieder vergessen hatte: die von Aussatz und blutigen Geschwüren entsetzlich entstellten Züge eines Weibes, welches – an der Brust einen Säugling – ein etwa vierzehnjähriges Mädchen an der Hand nach sich mehr schleppte als zog, während ein drittes Kind, ein Junge, sich an ihren Rock anklammerte.
– Zwei Schilling nur, Gentleman – zwei Schilling nur. Er war stehen geblieben, um sie zu fragen.
– Zwei Schilling nur – sie ist noch so jung, aber sie wird alles tun, was Sie wollen... und dabei zog sie das Mädchen näher, welches sich zitternd und weinend abwendete.
Ein Schauder lief ihn. Aber die flehende und wimmernde Stimme des Weibes ertönte weiter.
– Bitte, nehmen Sie sie doch mit. Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir draußen schlafen – nur zwei Schilling, Gentleman, nur zwei Schilling, sehen Sie nur, sie ist so hübsch ... Und wieder riss sie das Kind an sich.
Auban fühlte, wie das Entsetzen ihn schlich. Er wandte sich, unbewusst und unfähig, ein Wort hervorzubringen, zum Gehen.
Aber er hatte noch keinen Schritt getan, als sich das Weib plötzlich schreiend vor ihn auf den Boden hinwarf, das Mädchen losriss und sich an ihn anklammerte.
– Gehen Sie nicht fort! Gehen Sie nicht fort! schrie sie in entsetzlicher Verzweiflung. – Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir verhungern – nehmen Sie sie mit – hierher kommt sonst niemand mehr, und auf den Strand dürfen wir nicht – tun Sie es doch – tun Sie es doch!
Aber, als er sich, ohne es zu wollen, umsah, sprang die vor ihm Liegende plötzlich auf.
– Rufen Sie keinen Policeman! Nein, rufen Sie keinen Policeman! rief sie ängstlich-schnell. Da, als sie aufstand, gewann Auban seine Ruhe wieder. Er griff wortlos in die Tasche und reichte ihr hin, was er an Geld erfasste.
Das Weib stieß einen Freudenschrei aus. Wieder nahm sie das Mädchen am Arm und stellte es vor ihn hin.
– Sie wird mit Ihnen gehen, Gentleman, – sie wird alles tun, was Sie wollen... fügte sie flüsternd hinzu. Auban wandte sich ab und ging so schnell wie möglich durch die Reihen der Schlafenden und Betrunkenen dem Ausgange zu; keiner hatte der Scene geachtet.
Als er am Strand war, fühlte er, wie sein Herz jagte und seine Hände zitterten.
Acht Tage nach diesem suchte er Abend für Abend in dem Tunnel von Charing Cross und seiner Umgebung nach dem Weibe und den Kindern, ohne sie wieder finden zu können. Es hatte etwas in den Augen des Mädchens gelegen, das ihn beunruhigte. Aber der Augenblick war zu kurz gewesen, als dass er hätte erkennen können, was dieser Abgrund von Furcht und Elend verbarg...
Dann vergaß er dem ungeheuren Jammer, welcher sich ihm täglich zeigte, diese eine Szene, und täglich sah er wieder auf den Straßen die Kinder der Armut – Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren – sich darbieten – und war unfähig, zu helfen!
Wer war bemitleidenswerter, die Mutter oder die Kinder? Wie groß musste das Elend sein, wie entsetzlich die Verzweiflung, wie wahnsinnig der Hunger der beiden? Aber mit Abscheu spricht die Frau der Bourgeoisie von dem „Scheusal von Mutter“ und von dem „verkommenen Kinde“ – die Pharisäerin, welche unter der Hand desselben Elends genau denselben Weg gehen würde. – –
Mitleid! Jämmerlichste unserer Lügen! Unsere Zeit kennt nur Ungerechtigkeit.