John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay

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John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - John Henry Mackay gelbe Buchreihe

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Wahnsinnigen, murmelte Auban vor sich hin, – die Wahnsinnigen – sie sehen alle nicht, wohin Mitleid und Liebe uns gebracht haben –. Seine Augen waren umschattet, wie von der Erinnerung an die Kämpfe, welche diese Erkenntnis ihm auferlegt hatte.

      Wie deutlich er heute Abend beim Durchschreiten des Tunnels wieder die wimmernde, verzweifelte Stimme des Weibes und ihr drängendes: „Do it! do it!“ zu hören glaubte! Und aus dem trüben Dunkel tauchten wieder die scheuen, krankhaften Augen des Kindes auf.

      * * *

       Er kehrte um und durchschritt abermals den Tunnel. Bevor er sich jedoch dem Strand zuwandte, bog er in eine der Seitenstraßen ein, welche sich nach der Themse hinunterziehen. Er kannte sie alle – diese Gassen, diese Winkel, diese Ein- und Durchgänge: Hier war der nüchtern-graue Hinterbau des Theaters, dessen Frontseite den Strand mit Licht schwemmte; und jenes schmale, dreistöckige Haus mit den blinden Fenstern war eines jener berüchtigten Absteigequartiere, hinter deren Mauern sich allmählich Szenen der Verworfenheit abspielen, welche sich auch die sinnlich entartetste Phantasie nicht auszumalen wagt. Hier wohnte noch das Elend, und in jener nächsten, stillen Straße schon der Wohlstand – und so wirrten sich beide durcheinander bis zu der kleinen Kirche von Savoy inmitten ihrer kahlen Bäume und bis zu den vornehmen, verschlossenen Bauten des Temple mit seinen herrlichen Gärten...

      Auban kannte Alles: sogar den ewig-leeren, breiten, gewölbten Gang, der unter den Straßen durch nach den Embankments führt und von dessen verlassener, geheimnisvoller Stille aus das Leben des Strand sich anhört wie das ferne Rauschen einer immer letzten und immer ersten Welle auf ödem Sand-Ufer...

      Die Kälte wurde mit der vorgerückten Stunde empfindlicher und sickerte in der nebeligen Feuchtigkeit Londons nieder. Auban begann müde zu werden und wollte nach Hause. Er bog zum Strand ab.

      Der „Strand!“ West-End und City verbindend lag er vor ihm da, erhellt von den ungezählten Lichtern seiner Läden, durchrauscht von einer nie stockenden und nie endenden Menschenflut; zwei geteilte Ströme, der eine hinauf nach St. Pauls, der andere hinunter wogend nach Charing Cross. Zwischen beiden der betäubende Wirrwarr eines ununterbrochenen Verkehrs von Wagen: ein Bus, schwerfällig, besät mit bunten Reklamen, beladen mit Menschen, hinter dem anderen; ein Hansom, leicht, behänd auf seinen Zweirädern dahinhuschend, hinter dem anderen; dröhnende Lastwagen; tote, geschlossene Postwagen der Royal Mail; starke, breite Forewheelers; und dazwischen sich durchwindend, in der dunklen Masse kaum erkennbar, dahinsausende Bycicles...

       Das East-End ist die Arbeit und die Armut, aneinander gekettet durch den Fluch unserer Zeit: die Knechtschaft; die City ist der Wucherer, der die Arbeit verkauft und den Gewinn einzieht; das West End ist der vornehme Nichtstuer, der sie verbraucht. Der Strand ist eine der schwellendsten Adern, durch welche das geldgewordene Blut rinnt; er ist der Rivale von Oxford Street, und sträubt sich dagegen, von ihr besiegt zu werden. Er ist das Herz von London. Er trägt einen Namen, den die Welt kennt. Er ist eine der wenigen Straßen, in welchen Du Menschen aus allen Stadtteilen siehst: Der Arme trägt seine Lumpen und der Reiche seine Seide hierher. Wenn du dein Ohr öffnest, kannst du die Sprachen der ganzen Welt hören: Die Restaurants haben italienische Eigentümer, deren Kellner französisch mit dir sprechen; unter den Prostituierten sind mehr als die Hälfte Deutsche, die entweder hier untergehen oder sich so viel erwerben, dass sie in ihr Vaterland zurückkehren und dort ‚anständig’ werden können.

      Am Strand liegen die mächtigen Gerichtshöfe, und man weiß nicht, ob man Schauspieler oder Verrückte vor sich hat, wenn man die Richter in ihren langen Mänteln und ihren weißgepuderten Perücken mit den zierlich-albernen Zöpfen – alles äußerliche Würdeabzeichen einer würdelosen Komödie, die jeder vernünftige Mensch innerlich verlacht und verachtet, und die Jeder mitspielt, wird er geladen, – wenn man sie in seine hohen Torbögen hineineilen sieht; der Strand vereinigt eine verwirrende Anzahl von Behörden, von deren Existenz du nie in deinem Leben gehört hast, wenn sie dir genannt werden, in seinem kalten Somerset-Haus; und der Strand hat seine Theater, mehr Theater, als irgend eine Straße der Welt.

      So ist er der erste Gang des Fremden, der am Bahnhof von Charing Cross anlangt, und den seine meist engen und aufeinander gepressten Häuser enttäuschen; so wird er dessen letzter sein, wenn er London verlässt, der, dem er seine letzte Stunde schenkt.

      Auban tauchte unter in das Menschengewoge. Jetzt, wo er an Adelphi vorbeiging und das elektrische Licht die Straße – die Gasflammen weit strahlend – mit seinem hellweißen Licht schimmerte, konnte man sehen, dass er leicht hinkte. Es war fast unbemerkbar, wenn er schnell ging, aber wenn er langsam dahinschlenderte, zog er den linken Fuß nach und stützte sich fester auf seinen Stock.

       Am Bahnhof von Charing Cross hatte sich das Leben gestaut. Auban stand einige Augenblicke an einer der Einfahrten. Der Eingang zu Villiers Street, welche er wenige Minuten vorher unterhalb gekreuzt hatte, war belagert von Blumenverkäuferinnen, welche teils hinter ihren halbgeleerten Körben fröstelnd und müde kauerten, teils die Vorgehenden mit ihrem unaufhörlichen „Penny a bunch!“ zum Kauf ihrer kümmerlichen Blumenbündel zu verlocken suchten. Ein Policeman trieb eine von ihnen roh zurück; sie hatte sich mit einem Schritte auf das Pflaster gewagt, und sie durften keine Linie die Grenze der Seitenstraße hinaus. Das gellende Durcheinanderschreien der Zeitungsjungen, die ihre letzten Spezial-Editions los sein wollten, um noch in „Gattis Hungerford Palace“ Charlie Coborn – den ‚inimitable’ – in seinen „Two lovely black eyes“ bejubeln zu können, wäre unerträglich gewesen, wenn es nicht von dem Wagengerassel auf den Steinen des Vorhofes von Charing Cross, welches der mit Asphalt und Holzpflaster verwöhnte West Ender fast nicht mehr kennt, und dem heiseren Rufen der Omnibus-Kondukteure tönt worden wäre.

Grafik 77

      Trafalgar Square

      Mit jener Sicherheit, die nur ein langes Vertrautsein mit dem Straßenleben der Großstadt verleiht, benutzte Auban die erste Sekunde, in welcher die Wagenreihen einen Durchgang zeigten, um die Straße zu schreiten, und während sich hinter ihm in der nächsten die Fluten schlossen, ging er an der Kirche von St. Martin vorbei, warf einen Blick auf den totenstill daliegenden Trafalgar Square, durchschritt die enge und dunkle Green Street, ohne sich im Geringsten um den Cabby zu kümmern, der ihm von seinem Bock aus mit unterdrückter Stimme zurief, er habe ihm „Etwas zu sagen“ – Etwas von einer „jungen Dame“ – und befand sich nach drei Minuten an den erleuchteten Eingängen der „Alhambra“, von welchen verspätete Besucher sich nicht abweisen lassen wollten, da sie noch einen Stehplatz in dem füllten Hause zu erlangen hofften.

Grafik 78

      Alhambra

      Auban ging gleichgültig vor, ohne einen Blick auf die schillernden Photographien der üppigen Balletteusen – Reklameproben aus dem neuen Monstreballett „Algeria“, dem halb London zuströmte – zu werfen.

      Der Garten in der Mitte von Leicester Square lag in Dunkel gehüllt. Die Statue Shakespeares war nicht mehr erkennbar von den Gittern aus. „There is no darkness but ignorance“ – stand dort. Wer las es? ...

       An der Nordseite des Square herrschte lautes Leben. Auban musste sich durch Scharen französischer Prostituierten, deren lautes Lachen, Schreien, Schelten alles tönte, durchdrängen. Ihre überladenen und geschmacklosen Toiletten, ihre schamlosen Anerbietungen, ihre unaufhörlichen Bitten: – „ Chéri, chéri –“, mit denen sie sich an jeden Voreilenden drängten und ihn verfolgten, erinnerten an die Mitternachtsstunden der Außen-Boulevards von Paris.

      Überall schien ihm seine Zeit die entstellteste Seite ihres Gesichtes zu zeigen.

      Vor ihm gingen zwei junge Engländerinnen.

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