John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay
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Читать онлайн книгу John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - John Henry Mackay страница 9
– Aber du kannst nicht viel auf ihnen sehen. Die Tragödien der Armut spielen sich hinter den Mauern ab.
– Aber doch der letzte Akt – wie oft! – auf der Straße. Sie waren langsam weiter gegangen. Auban hatte seinen Arm in den des anderen gelegt und stützte sich müde auf ihn. Trotzdem hinkte er stärker als vorher.
– Und wo gehst du hin, Otto? fragte er.
– Zum Klub. Willst Du nicht mit?
– Ich bin etwas müde. Ich war den ganzen Nachmittag drüben. Dann, da ihm einfiel, dass der andere in diesen Worten nur einen Vorwand für eine Ablehnung sehen möchte, fügte er schneller hinzu: – Aber ich gehe schon mit; es ist eine gute Gelegenheit; sonst komme ich in nächster Zeit doch nicht hin. – Wie lange wir uns überhaupt nicht gesehen haben!
– Ja, fast drei Wochen schon nicht!
– Ich lebe immer mehr für mich. Du weißt es ja. Was soll ich in den Klubs? Diese langen Reden, immer dasselbe: Was sollen sie nützen? Das alles ist nur ermüdend.
Er merkte wohl, wie unangenehm es dem anderen war, was er sagte, und wie sich dieser gleichwohl mit der Richtigkeit seiner Worte abzufinden suchte.
– Ich bin noch immer, wie früher, jeden Sonntagnachmittag von fünf Uhr an zu Hause. Weshalb kommst du nicht mehr?
– Weil bei dir alles Mögliche zusammenkommt! Bourgeois, und Sozialdemokraten, und Literaten, und Individualisten –.
Auban lachte auf.
– Tant mieux. Die Diskussionen können dadurch nur gewinnen. Die Individualisten sind doch die schrecklichsten, nicht wahr, Otto?
Sein Gesicht war völlig verändert. Eben noch finster und verschlossen, zeigte es jetzt einen herzlichen Zug von Freundschaft und Freundlichkeit.
Aber der andere, welcher mit Otto angeredet war und Trupp hieß, schien davon nur unangenehm berührt zu werden, und er nannte einen Namen, der zwar von Aubans Stirn nicht die Ruhe, aber völlig von seinen Lippen das Lächeln scheuchte.
– Fünfzehn Jahre! Und wegen nichts! sagte der Arbeiter grollend und empört. – Aber warum lieferte er sich auch so unvorsichtig in die Hände seiner Feinde? Er musste sie doch kennen.
– Er wurde Verraten!
– Weshalb vertraute er sich anderen an! fragte Auban wieder. – Jeder ist von vornherein verloren, der auf andere baut. Auch das wusste er. Es war ein zweckloses Opfer!
– Ich glaube, du hast keinen Begriff von der Größe seines Opfers und seiner Hingabe, grollte Trupp.
– Lieber Otto, du weißt recht gut, dass mir überhaupt das Gefühl des Verständnisses für alle sogenannten Opfer abgeht. Was hat das Unterliegen des Genossen, des besten, des ehrlichsten vielleicht von allen, für einen Nutzen gehabt? Sage mir das!
– Es hat den Kampf erbitterter gemacht. Es hat die einen aus ihrer Lethargie aufgerüttelt, die anderen – uns – mit neuem Hass erfüllt. Es hat – und seine Augen flammten, während Auban fühlte, wie der Arm, den er hielt, in krampfhaftem Zorn erbebte – es hat in uns den Schwur erneuert, für jeden Gefallenen am Tage der Abrechnung hundertfache Sühne zu fordern!
– Und dann?
– Dann, wenn diese verfluchte Ordnung dem Boden gleich gemacht ist, dann wird sich die freie Gesellschaft auf den Trümmern erheben.
Auban sah wieder auf den heftig Sprechenden nieder, mit dem traurigen, ernsten Blick, mit dem er ihn vorher begrüßt hatte. Er wusste ja, dass in der zerrissenen Brust dieses Mannes nur ein Wunsch und eine Hoffnung noch lebten, die Hoffnung auf den Ausbruch der „großen“, der letzten Revolution!
So waren sie vor Jahren die Boulevards von Paris gegangen, und hatten sich berauscht an den tönenden Worten der Hoffnung; und während Auban längst allen Glauben verloren hatte, nur den einen nicht: An die langsam, langsam wirkende Macht der Vernunft, welche endlich jeden Menschen dahin führen wird, für sich, statt für Andere zu sorgen, und so mehr und mehr auf sich selbst zurückgekommen war, hatte sich der andere ebenso mehr und mehr in den Fanatismus einer Verzweiflung hinein verloren, welcher sich täglich von Neuem das schimmernde Gespenst der „goldenen Zukunft“ vor Augen zauberte und den letzten Halt an der Wirklichkeit aus den Händen gab, welche sich sehnsüchtig und vertrauend um den Nacken der Liebe schmiegten.
– In fünfzehn Jahren, so brach jetzt wieder lodernd die Flamme der Hoffnung aus seinen Worten, – kann viel geschehen! –
Auban antwortete nicht mehr. Er war machtlos diesem Glauben gegenüber. Langsam gingen sie weiter. Die Straßen wurden leerer und stiller. Es lag noch immer dieselbe brütende Feuchtigkeit in der undurchsichtbarer werdenden Luft, wie vor drei Stunden. Der Himmel war eine nebelgraue Wolkenmasse. Die Laternen brannten unstet-flackernd. Zwischen den beiden Männern lag das Schweigen der Entfremdung.
* * *
Sie waren auch äußerlich sehr verschieden.
Auban war größer und hagerer, Trupp muskulöser und proportionierter. Dieser trug einen kurzen, braunen Vollbart, während jener stets mit peinlicher Sorgfalt rasiert war.
Waren sie allein, so sprachen sie stets, wie auch an diesem Abend, französisch miteinander, welches Trupp ohne Mühe, wenn auch nicht ganz korrekt, Auban aber so schnell sprach, dass selbst seine Landsleute oft Mühe hatten, ihm zu folgen. Seine Stimme hatte einen seltsamen Klang von Härte, der zuweilen der Wärme seiner Lebhaftigkeit, öfter aber noch einer feinen Ironie wich. –
Vor ihnen begann das Gewirr der kleinen und engen Gassen sich zu lichten. Sie stiegen einige Stufen hinauf. Da lag Oxford Street!
– In fünfzehn Jahren, brach Auban das Schweigen, – haben die Ketten der Knechtschaft in den Ländern des Kontinents die Handgelenke der Völker fast durchschnitten, so dass sie sich zum Schlag nicht mehr heben können. Hier werden dieselben Hände in gleicher Zeit gefesselt sein, wie der Mund, der jetzt noch protestiert und sich müde redet.
– Ich kenne die Arbeiter besser als du. Bis dahin werden sie sich längst erhoben haben. – Um mit Kanonen, die selbsttätig in jeder Sekunde einen, und in einer Minute sechzig Schüsse abgeben, niedergemäht zu werden. Ja. Ich kenne die Bourgeoisie besser und ihre Leute.
Sie standen in Oxford Street: in nächtigem Licht und Leben.
– Da sieh hin – glaubst du, dies Leben – fällt mit einem Schlag und durch Einzelner Willen?
– Ja, sagte Trupp und zeigte nach Osten. – Dort liegt die Zukunft. Aber Auban fragte:
– Was ist die Zukunft? Die Zukunft ist der Sozialismus. Die Tötung des Individuums in immer engeren Grenzen. Die gänzliche Unselbständigkeit. Die große Familie. – Lauter Kinder, Kinder... Aber auch das muss durchgemacht werden.
Er lachte bitter und indem er dem Blick seines Freundes folgte: „Dort liegt – Russland!“ Dann schwiegen beide wieder.
Oxford Street dehnte sich aus – eine unsichtbare Linie von verschwimmendem Licht und brausendem Dunkel hinauf und hinunter.
– Es gibt drei London, sagte Auban, gepackt von dem Leben, – drei: London