Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens

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Skizzen aus dem Londoner Alltag - Charles Dickens

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mehr – sogar die Kirchenvorsteher wurden freigebig und brachten es dahin, daß die Kosten für einen Wagen, den der Pfarrer sich hatte machen lassen, um bei schlechtem Wetter den Leichengottesdienst besorgen zu können, von dem Kirchspiele übernommen wurden. Er schickte einer armen Frau, die auf einmal mit vier Kindern niedergekommen war, drei Pinten Fleischbrühe und ein Viertelpfund Thee – das Kirchspiel war entzückt. – Er veranstaltete eine Subscription für die Wöchnerin – ihr Glück war gemacht. Er sprach eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten in einer Anti-Sklaverei-Versammlung im Wirthshause zum Gestiefelten Bock. Der Enthusiasmus hatte seinen höchsten Gipfel erreicht. Man machte den Vorschlag, dem Pfarrer für seine ausgezeichneten Dienste, die er dem Kirchspiele geleistet, mit einem Stück Silbergeschirr ein Geschenk zu machen. Die Subscriptionsliste blieb zwar lange leer, aber die Ursache rührte nicht daher, daß irgend Jemand der Subscription entrinnen wollte, sondern vielmehr davon, weil man nicht wußte, wer den Anfang mit dem Unterzeichnen machen sollte; kaum war aber dieß geschehen, so war der Subscriptionsbogen im Nu gefüllt. Man ließ ein prachtvolles silbernes Schreibzeug mit einer passenden Umschrift verfertigen und lud den Pfarrer zu einem öffentlichen Frühstück in dem, vorerwähnten Gestiefelten Bock ein, wo ihm das Schreibzeug durch Herrn Gubbins, den Exkirchenvorsteher, mit einer zierlichen Rede überreicht wurde, die sodann der Pfarrer in Ausdrücken beantwortete, welche allen Anwesenden Thränen entlockten, so daß selbst die Kellner vor Rührung zerschmelzen wollten.

      Man sollte nun wohl annehmen dürfen, daß der Gegenstand der allgemeinen Bewunderung unter solchen Umständen bereits den höchsten Gipfel der Beliebtheit erreicht hätte. – Keineswegs! Der Pfarrer fing an zu husten, – eines Morgens hustete er vier Mal zwischen der Litanei und Epistel, und fünf Mal beim Nachmittagsgottesdienste. – Da war es klar – der Pfarrer hat die Schwindsucht. Welch interessante Schwermuth! Waren die jungen Damen vorher bis zur Ueberspannung gereizt, so kannte ihre Sympathie und ihre Bekümmerniß nun keine Gränzen mehr. So ein Mann wie der Pfarrer – so ein theurer – so ein liebenswürdiger Mann sollte schwindsüchtig sein! Es war zu viel. Anonyme Geschenke, bestehend aus bewährtem Brustthee und Hustenzucker, elastische Westen, Flanellwämser und warme Strümpfe kamen in Haufen in das Haus des Pfarrers, bis er so vollständig mit Winterkleidern ausgestattet war, als hätte er im Sinne, eine Reise nach dem Nordpol zu unternehmen. Bulletins über seinen Gesundheitszustand liefen des Tags ein halbes Dutzend Mal im ganzen Kirchspiele umher, und der Pfarrer befand sich im Zenith seiner Popularität.

      Um diese Zeit trat in den Gesinnungen des Kirchspiels eine Veränderung ein. Ein sehr ruhiger, achtungswürdiger, stiller, alter Mann, der seit zwölf Jahren die Predigerstelle in der Kapelle versehen hatte, starb an einem schönen Morgen plötzlich, ohne daß er von diesem Todesvorhaben etwas hätte vorher merken lassen. Dieser Umstand gab Veranlassung zum ersten Gegeneindruck, und die Ankunft seines Nachfolgers zum zweiten. Dieser war ein blasser, schmächtiger, leichenhaft aussehender Mann, mit großen schwarzen Augen und langem, straffem, schwarzem Haare; seine Kleidung war nachlässig bis zum Uebermaße, seine Manieren tölpisch, seine Vorträge abscheulich, kurz, er war in jeder Hinsicht das Gegenstück des Pfarrers. Unsere weiblichen Pfarrgenossen strömten haufenweise hin, um ihn zu hören; zuerst weil er ein so sonderbares Aussehen hatte, dann, weil sein Gesicht so ausdrucksvoll war; ferner, weil er so gut predigte; und endlich, weil sie wirklich glaubten, daß etwas ganz Unbeschreibliches in seinem Wesen läge. Was nun den Pfarrer anbelangt, so war dieser ohne Zweifel gerade wie vorher; aber doch ließ sich trotz dem nicht läugnen, daß – daß – kurz der Pfarrer war nicht mehr neu, und der andere Geistliche war es. Die Unbeständigkeit der Volksgunst ist zum Sprichworte geworden; seine Zuhörer verließen ihn, Einer nach dem Andern. Der Pfarrer hustete, bis er ganz schwarz im Gesicht wurde, – es war vergeblich. Er konnte nur mit Anstrengung Athem holen – es war eben so unwirksam, Theilnahme für sich zu erwecken. Man kann nun auf ein Mal wieder in jedem Theile unserer Pfarrkirche Sitze bekommen, während man damit umgeht, die Kapelle zu erweitern, da sie jeden Sonntag bis zum Ersticken angefüllt ist.

      Von allen Bewohnern des Kirchspiels ist Niemand bekannter und geachteter, als eine alte Dame, die in unserem Kirchspiele schon lange gewohnt hat, ehe noch unser Name ins Taufregister eingetragen wurde. Unser Kirchspiel gehört zu den Vorstädten, und die alte Dame bewohnt ein Haus in einer hübschen Reihe – zur Straße fehlt nämlich noch die zweite – in der lebhaftesten und angenehmsten Gegend des Kirchspiels. Das Haus ist ihr Eigenthum und trägt noch innen und außen – mit Ausnahme der alten Dame selbst, die etwas weniges älter aussieht, als vor zehn Jahren – vollkommen dasselbe Aussehen, wie es zu Lebzeiten des alten Herrn war. Das kleine Wohnzimmer an der Vorderseite, der gewöhnliche Aufenthaltsort der alten Dame, ist das treffendste Muster von Stille und Sauberkeit; der Bodenteppich ist mit einem Stücke grauer Leinwand bedeckt; die Spiegel und die Gemälderahmen sind sorgfältig in gelbem Musselin eingehüllt; die Tischteppiche dürfen nie weggenommen werden, als wenn die Tischblätter mit Terpentin abgerieben und gewichst werden, ein Prozeß, der einen Tag um den andern Morgens um halb zehn Uhr vor sich geht; Alles, vom Kleinsten bis zum Größten, hat seinen bestimmten Platz und darf nicht verrückt werden, namentlich auch die niedlichen Sächelchen, deren größerer Theil aus Geschenken besteht, welche die alte Dame von kleinen Mädchen, deren Eltern in derselben Reihe wohnen, erhalten hat, in deren Besitz sie zum Theil schon seit vielen Jahren ist, wie z. B. die beiden altmodischen Uhren (von denen die eine gewöhnlich eine halbe Stunde zu spät, die andere eine halbe Stunde zu früh geht), das kleine Gemälde, das die Prinzessin Charlotte und den Prinzen Leopold vorstellt, wie sie sich in der königlichen Loge des Drurylane-Theaters zeigen, u. dgl. Hier sitzt nun die alte Lady, mit der Brille auf der Nase, und emsig mit Nähtereiarbeit beschäftigt, zur Sommerzeit am Fenster, und wenn sie dich, lieber Leser, die Stufen der Treppe heraufkommen sieht, und du hast das Glück, zu ihren Günstlingen zu gehören, so trippelt sie hinaus, um dir die Hausthüre zu öffnen, ehe du klopfst, und nöthigt dir, wenn dich das Gehen in der Hitze ermüdet hat, ein paar Glas Xeres auf, ehe sie dich zum Sprechen gelangen läßt. Besuchst du sie Abends, so findest du sie zwar nicht minder liebenswürdig, doch ein wenig ernster als sonst; dann liegt eine Bibel auf dem Tische vor ihr aufgeschlagen, aus welcher »Sarrah«, die eben so niedlich gekleidet, und eben so pünktlich als ihre Herrschaft ist, regelmäßig zwei oder drei Kapitel laut vorliest. Die alte Dame sieht, mit Ausnahme der vorerwähnten kleinen Mädchen, selten Gesellschaft bei sich; von diesen aber hat jedes seinen bestimmten Tag, an dem es zum Thee kommen darf, und auf den sich die Kinder im Voraus freuen, als wenn sie zum größten Feste geladen wären, oder als ob ihre Existenz davon abhinge. Sie macht selten entferntere Besuche, als in ihre beiden Nachbarwohnungen zur rechten und linken Seite, und wenn sie dorthin zum Thee geht, so springt Sarah voran und klopft zwei Mal heftig, um jeder Möglichkeit vorzubeugen, daß »Missiß« sich durch Warten vor der Thüre erkälte.

      Sie ist sehr gewissenhaft darin, jede Einladung pünktlich zu erwiedern, und wenn sie Herrn und Madame So und So und Herrn und Madame Der und Die zu sich bitten läßt, so wird von ihr und Sarah die Theemaschine und das schönste chinesische Theeservice und das Theebrett mit der Päbstin Johanna sorgfältig abgestäubt, und die Gäste werden im größten Putze und im Besuchszimmer empfangen. Sie hat nur wenige Verwandte, die in verschiedenen Theilen des Landes zerstreut wohnen, und die sie daher selten sieht. Sie hat einen Sohn in Ostindien, den sie Jedermann als einen sehr hübschen, liebenswürdigen, jungen Mann schildert – dem Gemälde seines armen seligen Vaters, das an der Wand hängt, sprechend ähnlich; aber die alte Dame fügt mit traurigem Kopfschütteln hinzu, daß er ihr viel Leid angethan und ihr das Herz fast gebrochen; doch habe es Gott gefallen, sie darin zu bestärken, daß sie nur das Bessere von ihm glaube, weßhalb sie bitte, ja des Gegenstandes nimmer zu erwähnen. Sie hat eine große Menge Hausarme, und wenn sie des Sonnabends vom Wochenmarkte zurückkehrt, so findet sie auf der Hausflur eine regelmäßige Versammlung alter Männer und Frauen, die auf ihr wöchentliches Almosen warten. Ihr Name steht auf allen Subscriptionslisten für wohlthätige Zwecke immer obenan, und ihre Beiträge zu der Winter- Feuerungs- und Suppen-Vertheilungs-Gesellschaft sind stets die freigebigsten. Sie unterzeichnete zwanzig Pfund zur Errichtung einer Orgel in unserer Pfarrkirche und wurde am ersten Sonntag, als die Kinder nach derselben sangen, so ergriffen, daß sie durch den Kirchenstuhlschließer nach Hause geführt werden mußte. Ihr Eintritt in die Kirche ist stets das Zeichen zu einem kleinen Geräusch im Seitengange,

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