Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens

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Skizzen aus dem Londoner Alltag - Charles Dickens

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begleitet, sich ehrfurchtsvoll verbeugt, und die Thüre wieder geschlossen hat. Dieselbe Ceremonie wiederholt sich, wenn sie die Kirche verläßt und mit der ihrem Hause zunächst wohnenden Familie heimkehrt, mit welcher sie auf dem ganzen Wege über die Predigt spricht, nachdem sie unabänderlich die Unterredung dadurch eröffnet hat, daß sie den jüngsten Knaben nach dem Texte fragt.

      Auf diese Weise bringt die alte Dame ihr Leben hin, mit der einzigen Abwechslung, daß sie jedes Jahr einen kurzen Ausflug nach der Seeküste macht, und dort einige Zeit ein stilles Häuschen bewohnt. Ihr Leben ist nun in demselben unveränderten wohlthätigen Laufe so viele Jahre dahin gerollt, und dessen Ende wird wohl nimmer sehr ferne sein, dem sie übrigens mit Ruhe und ohne Zagen entgegen sieht. Sie hat Alles zu hoffen und Nichts zu fürchten.

      Sehr verschieden von der alten Dame ist einer ihrer nächsten Nachbarn, der sich in unserem Kirchspiele einen großen Ruf erworben hat. Es ist ein alter Seeoffizier auf halbem Sold und sein rauhes und rücksichtloses Benehmen bringt in die häuslichen Gewohnheiten der alten Dame nicht wenig Störung.

      Zuvörderst raucht er im Vorhofe Cigarren, und wenn es ihm zuweilen einfällt, dazu zu trinken, was keineswegs ein ungewöhnliches Ereigniß ist, so hebt er mit seinem Spazierstocke der alten Dame Thürklopfer in die Höhe und bittet, ihm ein Glas Ale über das Geländer zu reichen. Dann kommt noch, zu diesem unmanierlichen Betragen, daß er eine Art von Tausendkünstler, oder um sich seiner eigenen Worte zu bedienen, »ein förmlicher Robinson Crusoe« ist, und nichts macht ihm mehr Vergnügen, als an dem Eigenthum der alten Dame Experimente anzustellen.

      Eines Morgens stand er frühzeitig auf und pflanzte auf jedes Beet ihres Hausgartens drei oder vier Ringelblumenstöcke in voller Blüthe, so daß die alte Dame, die sie zu ihrem nicht geringen Erstaunen bemerkte, als sie beim Aufstehen aus dem Fenster sah, nicht anders glaubte, als sie seien während der Nacht durch irgend ein Wunder aus der Erde hervorgeschossen. Ein anderes Mal legte er die Achttageuhr am ersten Treppenabsatze auseinander, unter dem Vorgeben, sie reinigen zu wollen, und er setzte sodann das Werk durch einen bis dahin unentdeckten Prozeß auf eine so wundervolle Weise wieder zusammen, daß der kleine Zeiger seitdem dem großen, so oft er demselben kleinen begegnet, ein Bein stellt. Sofort fiel es ihm ein, sich in der Seidenwürmerzucht zu versuchen, die er täglich zwei oder drei Mal in kleinen Papierdüten herüberbrachte, um sie der alten Dame zu zeigen, wobei er in der Regel ein paar der Thierchen verlor. Die Folge war, daß eines Morgens ein ungewöhnlich großer Seidenwurm gefunden wurde, der gerade im Begriffe war, die Treppe hinaufzukriechen, wahrscheinlich in der Absicht, sich nach seinen Freunden zu erkundigen, denn wirklich machte man bei genauerem Nachsuchen die Entdeckung, daß sich fast in allen Zimmern des Hauses bereits einige seiner Stammesvettern eingebürgert hatten. Die alte Dame reiste in der Verzweiflung nach der Seeküste, und während ihrer Abwesenheit machte der Kapitän an ihrer messingenen Thürplatte so erfolgreiche Polirversuche mit äzenden Wassern, daß es ihm gelang, den eingegrabenen Namen vollständig auszutilgen.

      Aber all dieses ist noch nichts im Vergleiche mit seinem aufwieglerischen Benehmen im öffentlichen Leben. Er legt dieß bei jeder Kirchspielversammlung an den Tag, die er alle besucht, widersetzt sich stets den bestehenden Autoritäten, wirft den Kirchenvorstehern allerlei Schlechtigkeiten vor; fängt mit den Kirchspielsschreibern Streitigkeiten über gesetzliche Punkte an; läßt sich vom Steuereinnehmer an seine Schuldigkeit stets erinnern, und erst, wenn dieser mit seinen Erinnerungen aufhört, sendet er die Steuer; findet jeden Sonntag an der Predigt etwas zu tadeln; sagt laut, daß sich der Organist seines Spiels schämen müsse, und erbietet sich zu jeder Wette, die Psalmen weit besser singen zu wollen, als die Kinder männlichen und weiblichen Geschlechts zusammengenommen; kurz er beträgt sich auf höchst unruhige und aufrührerische Weise. Das Schlimmste dabei ist, daß er sich unaufhörlich bemüht, die alte Dame, da er so ausgezeichnete Achtung gegen sie hegt, für seine Ansichten zu gewinnen und deßhalb mit den Zeitungs-Neuigkeiten in der Hand täglich in ihr kleines Zimmer eindringt und heftige, stundenlange politische Reden hält. – Trotz dem Allem ist er im Grunde seines Herzens ein biederer, offenherziger, menschenfreundlicher alter Knabe und harmonirt im Ganzen mit der alten Lady, obgleich er ihr zuweilen gar zu viel zumuthet, sehr gut; und wenn ihr Unmuth vorüber ist, so lacht sie so herzlich, als irgend Jemand, über seine Kunststückchen.

      Drittes Kapitel

      Die vier Schwestern.

      Dieselbe Reihe, in welcher die Häuser der alten Dame und ihres gewaltthätigen Nachbars stehen, umfaßt unstreitig eine größere Anzahl Originale als der ganze Rest unseres Kirchspiels zusammengenommen. Da wir aber nach dem uns vorgesteckten Plane die Zahl unserer Parochialskizzen nicht über sieben ausdehnen können, so wird es wohl am besten sein, die besonders ausgezeichneten auszuwählen, und sie auf ein Mal ohne weitere Erläuterung unsern Lesern vorzuführen.

      Die vier Miß Willis wohnen bereits dreizehn Jahre in unserem Kirchspiele. Es ist eine fatale Betrachtung, daß das alte Sprichwort: »Ebbe und Fluth warten auf Niemand«, sich mit gleicher Macht auf die schönere Hälfte der Schöpfung anwenden läßt; und gerne wollten wir die Thatsache verschweigen, daß sogar schon vor jenen dreizehn Jahren die vier Miß Willis bereits über ihre Jugendblüthe hinausgerückt waren; allein unsere Pflicht als Parochialchronikschreiber überwiegt jede andere Rücksicht, und wir können nicht umhin, kund zu thun, daß die Autoritäten in Heirathsangelegenheiten schon vor dreizehn Jahren des Dafürhaltens waren, daß es um die Aussichten der jüngsten Miß Willis sehr prekär stände, während die der ältesten Schwester, als über alle menschliche Hoffnung hinausgehend, vollkommen aufgegeben werden müßten.

      Die vier Miß Willis also mietheten ein Haus; es wurde von oben bis unten neu gemalt und tapezirt, die gemalten Piecen wurden vollständig getäfelt, der Marmor gesäubert; die alten Kamine abgenommen und durch Registeröfen ersetzt; in dem Garten hinter dem Hause wurden vier Bäume gepflanzt, der Platz vor dem Hause mit einigen kleinen Körben Kies überschüttet, große Vorräthe eleganter Möbeln langten an, Federn-Jalousien wurden an den Fenstern angebracht; die Zimmerleute, welche verschiedene Zubereitungen, Veränderungen und Reparaturen vorgenommen hatten, erzählten den verschiedenen Mägden des Quartiers von der Pracht, mit welcher die Miß Willis ihre Einrichtungen getroffen hätten; die Mägde theilten es ihren »Mississes« und die Mississes ihren Freundinnen mit, und das Gerücht verbreitete sich mit reißender Schnelle durch das ganze Kirchspiel, daß sich in Nr. 25 auf dem Gordonplatze vier unverheiratete, unermeßlich reiche Damen eingemiethet hätten.

      Endlich zogen die vier Miß Willis ein, und das Besuchemachen nahm seinen Anfang. Das Haus war der Inbegriff alles Niedlichen und Säuberlichen – die vier Miß Willis waren es gleichfalls. – Alles war förmlich, steif und kalt, – das waren die vier Miß Willis auch. Immer stand jeder einzelne Stuhl an seiner bestimmten Stelle, – und immer befand sich jede Miß Willis auf dem ihrigen. Sie saßen stets auf derselben Stelle und thaten genau dasselbe zu ein und derselben Stunde. Die älteste Miß Willis war gewohnt zu stricken, die zweite zu zeichnen, die beiden jüngsten vierhändige Sonaten auf dem Fortepiano zu spielen. – Sie schienen blos ein einziges unabgesondertes Dasein zu haben und entschlossen zu sein, ihr Leben vereint durchzuwintern. Es waren die drei Grazien, freilich nicht in Kostüme und etwas hochgewachsen, zu denen sich eine vierte gesellte – gleich einem Schulmittagessen, wo zum dritten langen Gratias noch ein viertes hinzukommt – die drei Parzen mit einer vierten Schwester – die Siamesenzwillinge durch zwei multiplizirt. Wurde die älteste Miß Willis gallsüchtig, so wurden es im Augenblicke auch die andern drei. Die älteste Miß Willis wurde übellaunig und andächtig – sogleich waren auch die drei jüngeren Miß Willis übellaunig und andächtig. Was auch immer die älteste that, das thaten ihr die jüngeren nach, und was irgend sonst Jemand that, wurde von Allen getadelt. – So vegetirten sie – in einer Harmonie, wie man sie nur bei einer Nordpolexpedition trifft, und wenn sie zuweilen in eine Gesellschaft gingen, oder eine stille Gesellschaft bei sich sahen, so wurden die Nachbarn durchgehechelt. Drei Jahre waren auf diese Weise hingegangen, als ein unvorhergesehenes, unerwartetes Phänomen eintrat. Die Miß Willis

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