Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens
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Читать онлайн книгу Skizzen aus dem Londoner Alltag - Charles Dickens страница 8
Der Wahltag kam endlich heran. Es handelte sich aber nun nicht mehr um einzelne Personen und deren Interessen, der Kampf war vielmehr zum Parteienkampf geworden, in welchem die Herren im Amt den nicht Beamteten gegenüber standen. Die Frage war, ob man zugeben wolle, daß der schädliche Einfluß der Aufseher, die Herrschsucht der Kirchenvorsteher und der verabscheuungswürdige Despotismus des Kirchspielschreibers die Wahl eines Kirchspielsdieners zu einer bloßen leeren Förmlichkeit machen dürfe; ob man dem Kirchspiele einen von der Kirchspiels-Versammlung erwählten Kirchspielsdiener aufdringen lassen wolle, der blos den Befehlen und Zwecken derselben lebe, oder ob die Kirchspielsgenossen furchtlos an ihren unbezweifelten Rechten festhalten und einen unabhängigen Kirchspielsdiener nach ihrer eigenen Wahl ernennen wollen?
Es war bestimmt worden daß die Wahl in der Sakristei stattfinden solle; der Andrang der auf den Ausgang gespannten Zuschauer wurde aber so groß, daß man für nöthig erachtete, die Kirche selbst hierzu einzuräumen, wo sofort die Handlung mit einer passenden Feierlichkeit begann. Die Erscheinung der Kirchenvorsteher oder Aufseher, und der Ex-Kirchenvorsteher und Ex-Aufseher, begleitet von Spruggins, erregte allgemeines Aufsehen. Spruggins war ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem langen, blassen Gesichte; er trug einen groben, schwarzen Rock, und sah bekümmert und niedergedrückt aus, war es, daß er an seine Familie dachte, oder weil er sich in so ängstlicher Erwartung befand. Sein Mitbewerber erschien in einem abgelegten blauen Rock des Kapitäns mit großen Knöpfen, weißen Beinkleidern und jener Gattung von Stiefeln, die man allgemein unter der Benennung »Tiefhohen« kennt. In Bungs anständiger Haltung lag eine Ruhe, – eine Art moralischen Gefühls seiner Würde, ein gewisser ermutigender Ausdruck in seinen Blicken, der zu sagen schien: »Ich, ich bin der Mann für das Aemtchen« – lauter Ostentationen, die seiner Partei Vertrauen einflößten und seine Gegner augenscheinlich entmutigten.
Der Ex-Kirchenvorsteher erhob sich, Thomas Spruggins zum Kirchspieldiener vorzuschlagen. Er habe ihn schon lange gekannt, ihn seit Jahren schon genau beobachtet, und seit Monaten mit doppelter Schärfe bewacht. (Ein Kirchspiels-Angehöriger bemerkte hier, man könnte dieses eine »doppelte Aufsicht« nennen, aber die Bemerkung wurde durch den lauten Ruf »zur Ordnung« unterdrückt.) Er wolle wiederholen, daß er ihn seit Jahren im Auge gehabt, und daher mit Recht sagen könne, daß er nie einen Mann kennen gelernt habe, der sich anständiger betrage, der eine bessere Aufführung gehabt, der nüchterner und ruhiger sei, der eine edlere Gesinnung besitze. Ein Mann mit einer zahlreicheren Familie sei ihm nie bekannt gewesen (Heiterkeit). Das Kirchspiel brauche einen Kirchspieldiener, auf den man sich verlassen könne. (»Hört«, von den Anhängern Spruggins; durch ironisches Lächeln von Bung's Partei beantwortet.) Einen solchen Mann schlage er nun vor. (»Nein!« – »Ja!«) Er wolle nicht auf Personen hindeuten; (der Ex-Kirchenvorsteher fuhr in dem bekannten Negativ-Style fort, dessen sich große Redner mit Erfolg bedienen;) er wolle nicht von einem Herrn reden, der einst einen hohen Rang im Dienste Seiner Majestät eingenommen; wolle nicht sagen, daß dieser Herr kein Gentleman sei; nicht behaupten, daß dieser Mann kein Mann wäre; nicht sagen, daß er ein aufwieglerischer Kirchspielsgenosse sei; nicht behaupten, daß er sich nicht blos bei dieser, sondern auch bei frühern Gelegenheiten sehr tadelnswerth benommen habe; wolle nicht sagen, daß er zu jenen mißvergnügten, meuterischen Köpfen gehöre, welche überall Verwirrung und Unordnung anrichteten, wo sie hinkämen; wolle nicht sagen, daß in seinem Herzen Neid, Haß, Bosheit und Lieblosigkeit ihren Wohnsitz aufgeschlagen hätten. Nein! Er wünsche Alles zufrieden und vergnügt, und wolle daher gar nichts weiter sagen. (Beifall.)
Der Kapitän entgegnete im ähnlichen parlamentarischen Tone. Er wolle nicht sagen, daß er über die so eben vernommene Rede erstaunt sei, nicht sagen, daß sie ihn empört habe. (Beifall.) Er wolle die schönen Epitheta, die auf ihn abgeschossen worden seien, nicht wieder zurückschleudern (erneuerter Beifall); er wolle nicht auf Männer zielen, die einst im Dienste gewesen, aus dem sie nun glücklicherweise entfernt worden wären; die das Arbeitshaus schlecht verwaltet, die Armen gedrückt, das Bier verdünnt, schlecht gebackenes Brod und Knochen statt Fleisch gegeben, die Arbeit vermehrt und die Suppenportionen vermindert hätten. (Stürmischer Beifall.) Er wolle nicht fragen, was Leute dieser Art verdienten. (Eine Stimme: »Nichts für den Tag, und das Uebrige mögen sie sich suchen!«) Er wolle nicht sagen, daß ein Ausbruch des allgemeinen Unwillens sie aus dem Kirchspiele treiben sollte, das sie mit ihrer Gegenwart befleckten. (»Recht so!«) Er wolle nicht von dem unglücklichen Mann reden, der vorgeschlagen sei – er wolle nicht sagen, zum dienstbaren Werkzeug des Kirchspielvorstandes, sondern zum Kirchspielsdiener. Er wolle nicht auf dessen Familienverhältnisse hindeuten, wolle nicht sagen, daß zehn Kinder, Zwillinge und eine Frau ein schlechtes Beispiel zur Nachahmung für die Armen wären. (Lauter Beifall.) Er wolle sich ebensowenig auf Herzählen der Fähigkeiten Bungs einlassen. Der Mann stehe vor ihm, und er müsse in seiner Gegenwart verschweigen, was er von ihm sagen möchte, wenn er abwesend wäre. (Hier winkte Bung einem ihm nahe stehenden Freunde unter seiner Kopfbedeckung vor, indem er sein linkes Auge zudrückte und seinen rechten Daumen an seine Nasenspitze legte.) Es sei wider Bung die Einwendung gemacht worden, daß er nur fünf Kinder habe. (»Hört! Hört!« von der Gegenpartei.) Es müsse ihm aber noch bewiesen werden, daß die Gesetzgebung eine bestimmte Kinderzahl festgesetzt habe, welche für die Stelle eines Kirchspielsdieners befähige. Aber auch zugegeben, daß eine große Familie ein wesentliches Erforderniß sei, so bitte er, Thatsachen und Umstände in Betracht zu ziehen, über die wohl kein Zweifel obwalten könne. Bung zähle fünfunddreißig Jahre, Spruggins, von dem er gerne mit aller möglichen Achtung zu sprechen wünschte, fünfzig. Er frage nun, ob es nicht als sehr möglich, ob es nicht als sehr wahrscheinlich anzunehmen sei, daß Bung, wenn er Spruggins Alter erreicht hätte, eine Kinderzahl um sich erblicken könnte, die sogar noch größer wäre, als die, auf welche Spruggins gegenwärtig seine Ansprüche begründete? (Betäubender Beifall und Schwingen der Taschentücher.) Der Kapitän schloß unter lautem Beifall und Zuruf mit der Aufforderung an die Kirchspielsgenossen, die Sturmglocke zu läuten, und frei und ohne alle Einflüsterungen zur Abstimmung zu schreiten, sich von der Diktatur des Vorstandes los zu machen, oder zu gewärtigen, Sclaven zu bleiben.
Am folgenden Tage begann das Abstimmen, und nie haben wir in unserem Kirchspiele einen solchen Tumult erlebt, seit wir unsere berühmte Petition gegen die Sclaverei durchsetzten, die für so wichtig erachtet wurde, daß das Haus der Gemeinen auf die Motion des Mitgliedes für den Bezirk ihren Druck verfügte. Der Kapitän bestellte zwei Miethkutschen und ein Cabriolet für Bung's Partei – das Cabriolet für die betrunkenen Stimmgeber, und die zwei Kutschen für die alten Frauen, deren Mehrzahl in Folge des ungestümen Benehmens des Kapitäns zu der Abstimmung und wieder nach Hause gefahren wurden, ehe sie sich von dem plötzlichen Sturm zu erholen im Stande waren, und hinreichend und mit einigem Grad von Klarheit zur Ueberzeugung gelangen konnten, was sie gethan hatten, oder was mit ihnen vorgegangen war. Die Gegenpartei vernachlässigte solche Vorsichtsmaßregeln gänzlich, und die Folge davon war, daß eine große Menge Damen, die gemächlich – denn es war ein sehr heißer Tag – nach der Kirche spazierten, um für Spruggins zu stimmen, listig in die Kutschen gelockt wurden und für Bung stimmten. Hatte des Kapitäns Rede schon keine gewöhnliche Wirkung hervorgebracht, so veranlaßte der Versuch des Kirchspielscollegiums, einen besondern Einfluß zu üben, eine noch größere. Eine Drohung des Kirchspielsschreibers, einer Familie ihren Gewerbsverdienst zu entziehen, wurde diesem klar nachgewiesen; es war ein Versuch der feigsten, niederträchtigsten Gewaltthätigkeit. Es ergab sich nämlich, daß der Angeschuldigte gewohnt war, alle Wochen für sechs Pence Theekuchen bei einer armen, alten Frau, die ein kleines Haus im Kirchspiele gemiethet hatte und mit der eigentlichen Besitzerin des Hauses zusammenwohnte, kaufen zu lassen; bei dem letzten wöchentlichen Einkaufe, kurz vor der Wahl, war ihr nun durch die Vermittlung der Köchin, zwar in geheimnißvollen, aber doch hinreichend klaren Andeutungen zu verstehen