Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens
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»Nun, dieß war schlimm genug,« bemerkte Bung, indem er einen halben Schritt gegen die Thüre zu machte, als ob er damit anzeigen wollte, daß er nahe am Ende sei; »dieß war schlimm genug, ich traf aber auch eine Art heimlichen Elends – Sie werden mich wohl verstehen, was ich damit meine, Sir – das war noch weit herzbrechender. Wir hatten unter Anderem einst eine Auspfändung bei einer Dame, und noch schaudert mir das Herz, wenn ich daran denke. Ich will es so kurz als möglich machen; der Name thut nichts zur Sache. Möchte ich doch lieber gar nichts davon sagen dürfen! Es betraf den Rückstand einer Jahresmiethe. Ich ging wie gewöhnlich mit Fixem hin; ein sehr kleines Dienstmädchen öffnete uns die Thüre, und drei oder vier allerliebste Kinder spielten in dem Vorderzimmer, in das wir gewiesen wurden. Das Zimmer war sehr sauber, aber eben so spärlich ausgestattet, gerade wie die Kinder selbst. ›Bung,‹ sagte Fixem leise zu mir, als man uns ein Paar Minuten allein ließ; ›ich kenne diese Familie einigermaßen, und nach meiner Meinung wird es hier nicht gut gehen.‹ – ›Glauben Sie, sie werde nicht zahlen können?‹ erwiederte ich ganz ängstlich, denn die Kinder hatten mir gefallen. Fixem schüttelte den Kopf und war gerade daran, mir zu antworten, als eine Dame hereintrat, so weiß wie ich Tag meines Lebens nie eine gesehen, blos mit Ausnahme ihrer Augen, die vom Weinen geröthet waren. Sie trat so festen Schrittes einher, als ich es gethan haben könnte, schloß die Thüre sorgfältig, und setzte sich mit einem so ruhigen Gesicht, als wäre es von Stein gewesen, nieder. ›Was steht zu Ihren Befehlen, meine Herren?‹ fragte sie mit ruhiger aber eine gewisse Ueberraschung ausdrückender Stimme. ›Ist es wohl eine Auspfändung?‹ Fixem bejahte verlegen. Die Dame sah ihn starr an und schien ihn nicht verstanden zu haben. Fixem bejahte nochmals, sagte dann: ›Hier ist meine Vollmacht zur Pfändung‹ – und überreichte sie ihr eben so höflich, als ob es ein Zeitungsblatt gewesen wäre, das sich irgend ein Herr von ihm erbeten hätte.«
»Die Lippen der Dame bebten, als sie ihm das gedruckte Papier abnahm. Sie überlief es mit den Augen, und der alte Fixem fing an, ihr den Inhalt auseinander zu setzen; aber ich sah deutlich, daß sie nicht las; – das arme Ding! ›O mein Gott! was soll aus uns werden,‹ rief sie endlich, brach plötzlich in Thränen aus, ließ die Vollmacht zur Erde fallen, und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. ›O mein Gott, was soll aus uns werden?‹ Ihr Klageruf führte ein junges Frauenzimmer von ungefähr neunzehn bis zwanzig Jahren in das Zimmer, die, wie ich vermuthe, an der Thüre gehorcht hatte. Sie trug einen kleinen Knaben auf den Armen, den sie, ohne ein Wort zu sagen, der Dame auf den Schooß setzte. Letztere drückte das Kind gegen ihren Busen und überschüttete es mit Thränen, so daß sogar der alte Fixem seine blaue Brille abnahm, um die zwei Thränen, die, je eine auf jeder Seite, über sein schmutziges Gesicht herabtropften, abzuwischen. ›Liebe Mama,‹ sagte das junge Frauenzimmer, ›Sie wissen ja, wie viel Sie schon erduldet haben. Nehmen Sie alle unsere Sachen, – denn Papa's Sachen,‹ sagte sie, ›dürfen Sie nicht weggeben.‹ – ›Nein, nein, das werde ich nicht,‹ erwiederte die Lady, sich schnell sammelnd und ihre Augen trocknend; ›ich bin sehr thöricht, aber ich fühle mich schon besser, viel besser.‹
»Sie stand nun schnell auf und begleitete uns in alle Zimmer, während wir das Inventar aufnahmen, öffnete bereitwillig alle Schubfächer, schied Kinderzeug aus, um das Geschäft zu erleichtern, und sah dabei, ausgenommen daß sie Alles mit einer befremdlichen Hast that, eben so ruhig und gefaßt aus, als ob gar nichts vorgefallen wäre. Als wir wieder die Treppe herabgekommen waren, zögerte sie ein paar Minuten und sagte endlich: ›Meine Herren, ich befürchte ein Unrecht begangen zu haben, das Sie vielleicht in Verlegenheit bringen möchte. Ich habe gerade das Einzige, was ich in der Welt noch Werthvolles besitze, verheimlicht – hier ist es.‹ Bei diesen Worten legte sie ein kleines, in Gold gefaßtes Miniaturgemälde auf den Tisch. ›Es ist das Bild meines armen, theuren Vaters,‹ fuhr sie fort. ›Ich dachte wohl einst nicht daran, daß ich je Gott dafür danken würde, daß er mich des Originals beraubte; doch jetzt thue ich's, und habe es schon seit Jahren auf's inbrünstigste gethan. Nehmen sie es hin; es ist ein Bild, das nie von meiner Seite wich, weder in Krankheit noch in Noth; jetzt aber bin ich stark genug, mich von ihm zu trennen und, Gott weiß es, auch diesen Verlust mit möglichster Kraft zu ertragen.‹ Ich war nicht im Stande, ein Wort hervorzubringen, und blickte von dem Inventar, das ich eben auszustellen beschäftigt war, zu Fixem auf. Der Alte nickte mir bezeichnend zu; ich nahm meine Feder, machte einen dicken Strich durch das »Mini,« das ich eben geschrieben, und ließ das Miniaturbild auf dem Tische liegen.«
»Nun, Sir, um die lange Geschichte kurz zu machen, ich wurde als Execution zurückgelassen, und obgleich ich nur ein unwissender und der Hausherr ein gelehrter Mann war, so sah ich doch, was er nicht sah, und wofür er jetzt alle Schätze der Welt geben würde (wenn er sie hätte), um es zu jener Zeit gesehen zu haben. Ich sah, Sir, daß seine Frau unter den Sorgen, über die sie sich nie beklagte, und unter dem Kummer, den sie nicht mittheilen mochte, dahin schwand. Ich sah, daß sie langsam vor seinen Augen dem Tode entgegen ging, wußte, daß er die Mittel in Händen hatte, sie zu retten, aber ich durfte ihn nicht darauf aufmerksam machen. Ich tadle ihn nicht, denn ich glaube nicht, daß er sich selbst hätte ermannen können. Sie war so lange allen seinen Wünschen zuvorgekommen, und hatte so lange für ihn gehandelt, daß er, sich selbst überlassen, ein verlorener Mensch sein mußte. Ich pflegte, wenn ich sie in ihren Kleidern, die an ihr bettelhaft genug aussahen, und sogar bei jeder Andern kaum anständig ausgesehen hätten, zu Gesicht bekam, zu denken, wenn ich ein Gentleman wäre, so würde es mir das Herz abdrücken, meine Frau, die ein so munteres, fröhliches Mädchen gewesen, als ich ihr den Hof machte, nun durch ihre Liebe zu mir so verändert zu sehen. So kalt und regnerisch die Witterung auch war, und trotz dem, daß ihre Kleider sehr dünn und ihre Schuhe nicht zu den besten gerechnet werden konnten, lief sie während der ganzen drei Tage vom Morgen bis zum Abend von Haus zu Haus, um Geld aufzutreiben. Endlich war es beisammen und die Execution wurde aufgehoben. Die ganze Familie drängte sich, als es ankam, in das Zimmer, in dem ich mich befand. Der Vater war ganz glücklich, als die Unannehmlichkeit gehoben war – ich darf sagen, er wußte nicht wie? – die Kinder sahen wieder fröhlich und heiter aus; die älteste Tochter war überaus beschäftigt, Vorbereitungen zur ersten wieder behaglichen Mahlzeit seit der Einlegung der Pfändung zu treffen, und die Mutter sah vergnügt darein, Alles wieder so heiter zu sehen; aber wenn ich je den Tod im Angesicht einer Frau gelesen habe, so sah ich ihn an jenem Abend in dem ihrigen.«
»Ich hatte mich nicht geirrt, Sir« schloß Herr Bung, während er hastig mit dem Rockärmel über das Gesicht fuhr; »die Familie wurde glücklicher, günstigere Umstände traten ein. Aber es war zu spät. Jene Kinder sind nun mutterlos, und ihr Vater würde Alles, was er seither erlangt hat – Haus, Heimath, Geld und Gut, kurz Alles, was er hat oder je noch erwerben wird, darum geben, um das Weib wieder zurückzuerkaufen, das er für immer verloren hat.«
Sechstes Kapitel
Die Damen-Vereine.
Unser Kirchspiel ist äußerst fruchtbar an Damen-Wohlthätigkeits-Anstalten. Für den Winter, wenn nasse Füße gewöhnlich und kalte nicht selten sind, haben wir den Damen-Suppen-Vertheilungs-, und den Damen-Bettzeug-Vertheilungs-Verein. Für den Sommer, wann viel Steinobst genossen wird und Magendrücken vorherrscht, haben wir den Damen-Arznei-Vertheilungs- und den Damen-Kranken-Besuchs-Verein; während des ganzen Jahrs aber den Damen-Kinderprüfungs-, den Damen Bibel- und Gebetbuchs-Vertheilungs- und den Damen-Kindbettweißzeug-Monats-Leih-Verein.
Die beiden letztgenannten sind entschieden