Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens

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Skizzen aus dem Londoner Alltag - Charles Dickens

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mit den Unregelmäßigkeiten seines früheren Miethsmannes unserem Nachbar einen Widerwillen gegen ledige Herrn einflößte, wissen wir nicht; wir können nur so viel sagen, daß der nächste Zettel in dem Fenster des Parterrezimmers nur im Allgemeinen andeutete, daß ein paar möblirte Gelasse in dem ersten Stock zu vergeben seien. Die Anzeige verschwand bald wieder, und die neuen Insassen erregten zuerst unsere Neugierde, später aber unsere Theilnahme.

      Sie bestanden aus einem jungen Menschen von achtzehn oder neunzehn Jahren und seiner Mutter, die etwa fünfzig, vielleicht auch etwas weniger zählen mochte. Mutter und Sohn waren tief in Trauer gekleidet. Sie waren arm – sehr arm; denn ihr ganzer Unterhalt beschränkte sich auf den kümmerlichen Verdienst des jungen Mannes, den er sich durch Abschreiben und Uebersetzen für Buchhändler erwarb.

      Sie hatten früher auf dem Lande gelebt und sich nach London übersiedelt, zum Theil, weil es dem jungen Mann bessere Aussichten zu Beschäftigung bot, zum Theil vielleicht auch, weil sie einen Ort zu verlassen wünschten, wo sie bessere Tage gesehen hatten und wo man ihre Verarmung kannte. Sie waren für ihre Verhältnisse stolz und mochten keinen Fremden ihren Mangel wissen lassen. Welche bittere Entbehrungen sie zu erleiden hatten und wie angestrengt der junge Mann arbeiten mußte, um der größten Nothdurft abzuhelfen, war Niemand als ihnen selbst bekannt. Man konnte alle Nacht bis zwei, drei, ja vier Uhr hin und wieder das spärliche Feuer nachschüren hören oder den hohlen, halberstickten Husten vernehmen, welcher verkündigte, daß der junge Mann noch bei der Arbeit war; und mit jedem Tage sah man deutlicher, daß die Natur jenes unirdische Licht über seine Jammermiene gegossen hatte, welches das Kennzeichen ihrer verheerendsten Krankheit ist.

      Wir leiteten, wie wir hoffen, von einem höheren Gefühle als dem der bloßen Neugierde veranlaßt, eine Bekanntschaft mit den armen Fremden ein, welche bald in die innigste Vertrautheit überging. Unsere schlimmsten Befürchtungen waren verwirklicht; der junge Mensch schwand rasch dahin. Er setzte seine Arbeiten den Winter über, durch das Frühjahr und bis in den Sommer hinein fort, und die Mutter versuchte es, durch die Arbeit ihrer Nadel Brod zu erwerben.

      Aber Alles, was sie verdienen konnte, bestand nur hin und wieder in einigen Shillingen. Der junge Mensch arbeitete ohne Unterlaß und starb mit jeder Minute mehr dahin; aber kein Murren, keine Klage kam über seinen Mund.

      An einem schönen Herbstabende machten wir unsern gewöhnlichen Besuch bei dem Kranken. Die wenigen Kräfteüberreste hatten in den letzten zwei oder drei Tagen schrecklich abgenommen, und er lag, in den Anblick der untergehenden Sonne vertieft, an dem offenen Fenster auf dem Sopha. Seine Mutter hatte ihm aus der Bibel vorgelesen und schloß bei unserem Eintreten das Buch, um uns zu begrüßen.

      »Ich habe William gesagt,« sprach sie, »wir müßten Sorge tragen, ihn irgendwo aufs Land zu bringen, damit er sich erholen könne. Er ist nicht krank, wie Sie wissen, aber sehr geschwächt, denn er hat sich in der letzten Zeit zu sehr angestrengt.«

      Arme Frau! die Thränen, die unter ihren Fingern niederfielen, während sie sich zur Seite wandte, als wolle sie sich ihre Haube zurecht setzen, zeigten zu deutlich, wie vergeblich der Versuch war, sich zu täuschen.

      Wir setzten uns oben an das Sopha, ohne etwas zu sprechen, denn wir sahen den Athem des Lebens, zwar sanft, aber schnell aus der Gestalt des jungen Mannes entweichen. Mit jedem Athemzug schlug sein Herz langsamer.

      William legte eine Hand in die unsrige, umfaßte mit der andern seine Mutter, zog sie an sich, und küßte sie glühend auf die Wange. Es erfolgte eine Pause. Dann sank er auf sein Kissen zurück, und sah lange und ernst seiner Mutter in's Gesicht.

      »William! lieber William!« flüsterte die Mutter nach einem langen Schweigen; »sieh mich nicht so an – sprich mit mir, Lieber!«

      Der junge Mann lächelte matt, aber einen Augenblick nachher nahmen seine Züge denselben kalten und feierlichen Ausdruck wieder an.

      »William, lieber William! Fasse dich! Sieh mich nicht so an, mein Herz! – thu es nicht! O mein Gott! was soll ich thun?« rief die Wittwe, die Hände verzweifelnd zusammenschlagend. »Mein liebes Kind! es stirbt!«

      William machte eine gewaltsame Anstrengung, sich aufzurichten, und faltete die Hände:

      »Mutter! liebe Mutter!« hauchte er. »Laß mich in dem freien Felde begraben – überall, nur nicht in diesen schrecklichen Straßen. Ich möchte wohl sein, wo du mein Grab sehen könntest, aber nicht in diesem Straßengedränge; es hat mich getödtet. Küsse mich noch einmal, Mutter; schlinge den Arm um meinen Hals – –«

      Er sank zurück, und ein seltsamer Ausdruck stahl sich über seine Züge – nicht der des Schmerzes oder des Leidens, sondern ein unbeschreibliches Starrwerden jeder Linie und jeder Muskel.

      William war todt.

      Scenen - Erstes Kapitel

      Der Morgen in den Straßen.

      An einem Sommermorgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, bieten die Straßen von London selbst den Wenigen, die der unglücklichen Jagd nach Genuß oder der beinahe ebenso unglücklichen Jagd nach Erwerb eine genaue Bekanntschaft mit den vorkommenden Auftritten verdanken, einen höchst ergreifenden Anblick dar. In den geräuschlosen Straßen, welche zu anderen Zeiten von einer geschäftigen, munteren Menschenmenge wimmeln, und auf den stillen, festverschlossenen Gebäuden, die den Tag über von Leben und Lärmen strotzen, liegt das Trauergepräge der Verlassenheit und des Todes.

      Der letzte Trunkenbold, der noch vor Tagesanbruch seinen Heimweg finden will, ist soeben schwerfällig vorübergetaumelt, den Refrain des Trinkliedes, das in der vergangenen Nacht gesungen wurde, zu Ende brüllend: der letzte heimathlose Landstreicher, den der Mangel und die Polizei ohne Obdach gelassen, hat in einer gepflasterten Straßenecke, wo er von Speise und Wärme geträumt, seine frostigen Glieder aufgerafft. Trunkenbold, Wollüstling und Vagabund sind verschwunden, und der mäßigere und geordnetere Theil der Bevölkerung ist noch nicht zu den Mühen des Tages erwacht. Die Stille des Grabes schwebt über den Straßen; sie scheinen die natürliche Farbe derselben angenommen zu haben – so kalt und leblos liegen sie im grauen Zwielichte der Morgendämmerung da. Die Kutschenstände in den größeren Durchfahrten sind verlassen: die Nachthäuser sind geschlossen; und die Lieblingsspaziergänge des muthlosen Elends sind leer.

      Hie und da sieht man an den Straßenecken einen vereinzelten Polizeidiener, der den öden Schauplatz mehr mit dem Gehör als mit dem Gesicht beobachtet; und dann und wann stiehlt sich ein verstört aussehender Kater eilig über die Straße und läßt sich von seinem Tummelplatze mit einer Vorsicht und Schlauheit herunter – zuerst auf den Wasserstein, dann auf das Kerichtfäßchen und endlich auf die Pflastersteine springend – als wäre er sich bewußt, daß sein Ruf davon abhänge, seine nächtlichen Liebesabenteuer dem Auge der Oeffentlichkeit zu entziehen. Hin und wieder bemerkt man ein halboffenes Fenster an einem Schlafzimmer, das ebensowohl von der Wärme der Luft, als von dem unruhigen Schlafe seines Bewohners zeigt, und der matte Schimmer des Nachtlichtes, der durch den Vorhang dringt, bezeichnet das Gemach der Schlaflosigkeit oder Krankheit. Mit diesen wenigen Ausnahmen verrathen die Straßen kein Lebenszeichen und die Häuser scheinen ausgestorben.

      Eine Stunde geht vorüber; die Spitzen der Kirchen und die Giebel der Hauptgebäude sind vom Lichte der aufgehenden Sonne schwach beleuchtet, und die Straßen nehmen in beinahe unmerklicher Stufenfolge allmälig ihr gewöhnliches Leben und Treiben wieder an. Marktkarren rollen langsam dahin, indeß der schläfrige Kärrner die ermüdeten Rosse ungeduldig antreibt oder vergebliche Versuche macht, den Jungen zu erwecken, der, auf den Deckeln der Obstkörbe hingestreckt, in schwelgerischer Ruhe die lang genährte Begierde nach dem Anblicke der Wunder von London in selige Vergessenheit begräbt.

      Rohe,

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