Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens

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Skizzen aus dem Londoner Alltag - Charles Dickens

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nein, man hörte noch einen andern, aber er ist jetzt verstummt. Das unglückliche Weib mit dem Kind auf den Armen, dessen abgezehrte Gestalt sie mit den Enden ihres eigenen, knappen Halstuches sorgfältig umhüllt, hat den Versuch gemacht, eine Volksballade zu singen, in der Hoffnung, dem mitleidigen Vorübergehenden einige Pence zu entlocken. Ein fühlloses Gelächter über ihre schwache Stimme ist alles, was sie ersungen hat. Große Thränen strömen über ihr blasses Gesicht, das Kind friert und hungert und sein leises, halbunterdrücktes Gewimmer erhöht das Elend seiner unglücklichen Mutter; sie schluchzt laut und sinkt verzweiflungsvoll auf eine kalte nasse Thürschwelle nieder.

      Singen! Wie wenige von denjenigen, welche an einem solchen bedaurungswürdigen Geschöpfe vorübergehen, denken an die Angst des Herzens und die Gedrücktheit der Seele und des Geistes, welche eine solche Anstrengung zum Singen hervorruft. Bitterer Spott! Krankheit, Verwahrlosung und Hunger murmeln die Worte des fröhlichen Liedes, welches, Gott weiß wie oft, eure Stunden beim Schmauß und Gelage belebt hat! Es ist kein Gegenstand zum scherzen. Die schwache zitternde Stimme erzählt eine furchtbare Geschichte von Mangel und Hunger; und die kranke Sängerin eures Zechliedes wendet sich weg, um vor Frost und Hunger zu sterben.

      Ein Uhr. Gruppen, welche aus den verschiedenen Theatern kommen, waten durch die kothigen Straßen; Kabriolete, Miethkutschen, Wagen und Theateromnibusse rollen schnell vorbei; Wassermänner mit trüben, schmutzigen Laternen in der Hand und große Messingplatten auf der Brust, welche während der zwei letzten Stunden mit lautem Rufen hin und her gerannt sind, ziehen sich nach ihren Wasserstuben zurück, um sich mit ihren Lieblingen, der Pfeife und dem Wermuthbier, zu trösten; die Theaterbesucher, welche um's halbe Geld auf's Parterre und in die Logen gehen, drängen sich nach den verschiedenen Restaurationshäusern; und unter einer geräuschvollen Verwirrung von Rauchen, Rennen, Messerklappern und Kellnerplappern, das völlig unbeschreiblich ist, werden zahllose Rostrippchen, Nieren, Kaninchen, Austern, Doppelbier, Cigarren und »Budeln« herumgereicht.

      Der musikalischere Theil der Schauspielbesucher begibt sich in eine Harmoniegesellschaft. Aus Neugierde wollen wir sie für einige Augenblicke dorthin begleiten.

      In einem hohen, geräumigen Saale sitzen achtzig bis hundert Gäste und klopfen mit zinnernen Trinkkrügchen kleine Melodieen auf den Tisch, oder hämmern mit den Messerheften, als wären sie eben so viele FaßbinderA3. Sie applaudiren einem lustigen Lied, welches so eben von den drei »Vorständen« am oberen Ende der im Mittelpunkt stehenden Tafel gesungen worden ist. Einer dieser Vorstände nimmt den Präsidentenstuhl ein – es ist der kleine, pompöse Mann mit dem Kahlkopfe, der gerade noch aus dem Kragen seines grünen Rockes hervorragt; ihm zur Rechten und zur Linken sitzen die beiden anderen – der starke Mann mit der schwachen Stimme und der finstere Mann mit dem hageren Gesichte in schwarzem Anzug. Der kleine Mann im Präsidentenstuhl ist eine höchst amüsante Personage – eine solche Herablassung bei einer solchen Größe, und eine solche Stimme!

      »Tief!« wie unser Nachbar, der junge Herr mit dem blauen Rock seinem Gefährten kräftig bemerkt, »tief! das will ich glauben. Er kann tiefer hinunter, als irgend Jemand; zuweilen so tief, daß Sie ihn nicht mehr hören können.« Und er thuts. Ihn so allmälig tiefer und tiefer hinunterbrummen zu hören, bis er nicht mehr zurück kann, das ist der größte Genuß auf der Welt, und es ist eine reine Unmöglichkeit, den ergreifenden Ton, mit dem er seine Seele in »mein Herz ist im Hochland«, oder »der brave alte Hoak« ausströmt, ohne Rührung zu hören. Der starke Mann neigt sich auch zur Sentimentalität hin und trillert »flieh, flieh aus der Welt Bettili mit mir«, oder irgend eine andere Arie, mit der süßen Stimme einer Dame und in den bezauberndsten Tönen, die man sich denken kann.

      »Bestellen Sie jetzt, meine Herren, was sie wünschen – bestellen Sie« – sagt der rothhaarige Mann mit dem blassen Gesichte; und die Bestellungen von »Budeln« Wachholder, und »Nudeln« Branntwein und Pinten Doppelbier und Cigarren von besonderer Milde erschallen jetzt lärmend aus allen Theilen des Zimmers. Die »Vorstände« haben den Höhepunkt ihres Glanzes erreicht und beglücken die bekannteren Besucher des Saales mit der schmeichelhaftesten Gönnermiene, mit herablassenden Verbeugungen, oder sogar mit einem, ja mit zwei Worten dankbarer Anerkennung.

      Der kleine Mann mit dem runden Gesichte und dem kurzen braunen Ueberrock, weißen Strümpfen und Schuhen, ist in seiner komischen Laune; die Miene der Selbstverläugnung, verbunden mit dem Bewußtsein seiner Würde, womit er seinen Beruf für das Präsidium anerkennt, ist besonders einnehmend. »Meine Herren,« sagt der kleine, pompöse Mann, diese Worte mit einem Schlage des Präsidentenhammers auf den Tisch begleitend – »meine Herren, erlauben Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. – Unser Freund, Herr Smuggins, will uns etwas zum Besten geben.« – »Bravo!« ruft die Gesellschaft. Und Smuggins hustet eine Symphonie und schnüffelt ein paar Mal auf eine höchst witzige Weise, was beides mit allgemeinem Beifall aufgenommen wird; dann singt er ein komisches Lied, mit einem »Vivallallerachor«, der weit länger ist, als der Vers selbst. Er erntet ein unmäßiges Beifallsgeschrei, und nachdem ein strebender Geist aus freien Stücken eine Recitation gegeben und erschreckliche Mißtöne hervorgebracht hat, schlägt der kleine, pompöse Mann abermals auf den Tisch und sagt, »meine Herren, ein Lustiges, wenn es Ihnen gefällig ist!« Diese Aufforderung ruft einen stürmischen Beifall hervor und die energischen Geister drücken ihre unbedingteste Zufriedenheit dadurch aus, daß sie ein oder zwei Biergläser auf ihren Beinen zerschlagen – ein humoristisches Sinnbild, das jedoch häufig zu einem kleinen Wortwechsel Anlaß gibt, wenn von Seiten des Kellners eine Anforderung wegen Entschädigung gestellt wird.

      Dergleichen Scenen dauern bis drei oder vier Uhr Morgens fort; und sogar, wenn sie ausgespielt sind, so eröffnen sich für den wißbegierigen Neuling wieder neue. Doch da eine Schilderung aller, wenn sie auch noch so skizzenartig gegeben würde, einen ganzen Band einnähme, dessen Inhalt, wenn auch noch so belehrend, doch keineswegs gefällig sein dürfte, so machen wir unsere Verbeugung und lassen den Vorhang nieder.

      1 Faßbinder: Küfer

      Drittes Kapitel

      Die Kramläden und ihre Miether.

      Welch unerschöpfliche Quellen bieten die Straßen London's dem Beobachter dar! Wir können nicht mit Sterne übereinstimmen, der den Mann beklagt, welcher vom Dan nach Beersheba wanderte und sagen konnte, Alles sei unfruchtbar; wir haben nicht das geringste Mitleid mit dem Manne, der seinen Hut aufsetzen, seinen Stock in die Hand nehmen und vom Covent-Garden bis zum St. Pauls-Kirchhof und wieder zurück auf den Marktplatz gehen kann, ohne auf dieser Wanderung sich irgend eine Unterhaltung – wir hätten fast gesagt Belehrung – verschafft zu haben. Und doch gibt es solche Geschöpfe – wir begegnen ihnen alle Tage. Hohe, schwarze Cravaten und helle Westen, etwa auch ein schwarzes spanisches Rohr, vor allem aber ein mißvergnügtes Aussehen – dieß gehört zu den charakteristischen Kennzeichen dieser Rasse. Andere Leute eilen rasch an Einem vorüber, stets eifrig in irgend einem Geschäfte begriffen, oder fröhlich dem Vergnügen nachlaufend; jene Menschen dagegen schleichen verdrossen einher und legen etwa dieselbe Fröhlichkeit und Lebhaftigkeit an den Tag, wie Polizeidiener, die in ihrem Dienste begriffen sind. Nichts scheint auch nur den geringsten Eindruck auf sie zu machen, und ihr Gleichmuth bleibt ungestört, selbst wenn sie von einem Lastträger niedergerannt oder von einem Kabriolet zu Boden gefahren werden sollten.

      Man trifft sie vornehmlich an schönen Tagen in irgend einer der Hauptdurchfahrten; sieht man des Abends durch das Fenster eines Cigarrenladens in West-End – wenn je zwischen den blauen Vorhängen, die dem neugierigen Auge wehren sollen, ein freies Plätzchen zu finden ist, um einen Blick hineinzuwerfen – so findet man sie in dem einzigen Genusse, den ihnen ihr Dasein bietet. Da lungern sie in den Rauchstübchen um einige runde Fässer herum, in all jener Würde, die ihnen mächtige Knebelbärte und große goldene Uhrketten verleihen können, wobei sie nichtssagende Worte leise der jungen Dame in dem Ambrakleide mit den großen Ohrringen zuflüstern, welche auf ihrem Sitze hinter

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