Skizzen aus dem Londoner Alltag. Charles Dickens

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Skizzen aus dem Londoner Alltag - Charles Dickens

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welcher der Neuerung mit den Tischtüchern einen so mannhaften Widerstand entgegengesetzt hatte, verlor jeden Tag mehr Boden, während sein Gegner ihn eroberte, und eine tödtliche Fehde entbrannte zwischen Beiden. Der Vornehmere nahm seinen Abendtrunk nicht mehr in Scotland-Yard, sondern wässerte seinen Wachholder in einem »Gastzimmer« der Parlamentsstraße. Der Obstpastetenbäcker besuchte immer noch die alte Stube, aber er rauchte jetzt Cigarren, nannte sich Tortenkoch und las die Zeitung. Die alten Kohlenträger versammelten sich noch um die alte Feuerstätte, aber ihr Gespräch war düster, und der laute Gesang und das fröhliche Geschrei ließ sich nicht mehr hören.

      Und was ist Scotland-Yard jetzt? Wie haben sich seine alten Gewohnheiten verändert; und wie ist die alte Einfalt seiner Bewohner hinweggestorben! Das alte, baufällig gewordene Wirthshaus ist in ein geräumiges und hohes »Weingewölbe« verwandelt; bei den Buchstaben, welche die Außenseite verzieren, ist goldenes Laub verwendet und die Dichtkunst in Requisition gesetzt worden, um die Gäste darauf aufmerksam zu machen, daß sie sich nach dem Genusse einer gewissen Art von Ale fest am Geländer halten müßten. Der Schneider hat an seinem Fenster ein Exemplar von einem ausländisch aussehenden, braunen Ueberrock mit seidenen Knöpfen, einem Pelzkragen und ditto Aufschlägen ausgehängt. Er trägt Streifen auf beiden Seiten seiner Beinkleider, und wir sahen seine Gehülfen (denn er hat jetzt Gehülfen) in derselben Uniform auf dem Schneiderstisch sitzen.

      Am andern Ende der kleinen Häuserreihe hat sich ein Stiefelmacher in einem backsteinernen Häuschen, das seit neuerer Zeit mit einem ersten Stocke versehen ist, etablirt, und hier stellt er Stiefel – leibhafte Wellingtonstiefel – einen Artikel, von dem noch vor wenigen Jahren Keiner von den Ureinwohnern je etwas gesehen noch gehört hatte, zum Verkauf aus. In den jüngsten Tagen hat auch ein Damenkleidermacher eine kleine Bude mitten in der Häuserreihe aufgeschlagen, und als wir schon der Meinung waren, der Geist der Neuerung könne keine höhere Veränderung mehr hervorbringen, erschien gar noch ein Juwelier, der, nicht zufrieden, eine Unzahl vergoldeter Ringe und messingener Armspangen auszustellen, eine Karte aufsteckte, die noch an seinem Fenster zu sehen ist, des Inhalts: »hier werden den Damen die Ohrenringlöcher gestochen.« Der Damenkleidermacher hat eine junge Dame in seinen Diensten, welche eine Schürze mit Taschen trägt; und der Schneider benachrichtigt das Publikum, daß sich die Herren hier Kleider machen lassen können, wenn sie das Tuch dazu geben.

      Mitten unter diesen wechselvollen, rastlosen Neuerungen steht nur noch ein alter Mann, der den Verfall des alten Platzes zu betrauern scheint. Er unterhält sich mit keiner Seele, sondern beobachtet auf einer hölzernen Bank in der Ecke der Mauer, welche mit dem Querweg von Whitehall-Place parallel läuft, stillschweigend die Sprünge seiner glatten, wohlgefütterten Hunde. Es ist der Genius loci von Scotland-Yard. Jahre und Jahre sind über seinem Haupte dahingerollt; aber bei gutem oder schlechtem, warmem oder kaltem, nassem oder trockenem Wetter, bei Hagel, Regen oder Schnee sitzt er immer an seinem gewohnten Platze. Elend und Mangel liegen auf seinem Gesichte; seine Gestalt ist vom Alter gebeugt, sein Haar von langer Trübsal grau, aber dort sitzt er Tag für Tag, brütend über der Vergangenheit; und hin wird er seine wankenden Glieder schleppen, bis sich seine Augen über Scotland-Yard und über der ganzen Welt geschlossen haben werden.

      Noch einige Jahre, und der Alterthumsforscher einer anderen Generation mag bei Durchlesung einer modernden Chronik der Streitigkeiten und Leidenschaften, welche die Welt in diesen Zeiten bewegt haben, auch einen Seitenblick auf die Blätter werfen, die wir so eben ausgefüllt: denn bei all' seiner Kenntniß der Geschichte der Vergangenheit helfen ihm seine Stubengelehrtheit oder Belesenheit, alle trockene Studien eines langen Lebens oder die staubbedeckten Bände, die ihn ein Vermögen gekostet haben, nicht zu demjenigen Wissen, das man hier von Scotland-Yard oder irgend einem von den Gränzpunkten, die wir bei der Schilderung desselben angeführt haben, zu erwerben Gelegenheit hat.

      1 Ein Kohlenmaaß von 36 Scheffeln.

      1 Ziemer: Rückenbraten

      2 Wallsendkohlen: Wallsend: eine Stadt in Nordengland

      Fünftes Kapitel

      Seven Dials.F2

      Wir sind immer der Meinung gewesen, wenn Tom King und der Franzose Seven Dials nicht unsterblich gemacht hätte, so würde sich Seven Dials selbst unsterblich gemacht haben. Seven Dials! Die Gegend des Gesangs und der Dichtkunst – Erstlingsfrüchte und Schwanenlieder: geheiligt durch die Namen Catnac und Pitts – Namen, welche unmittelbar mit Obsthändlern und Drehorgeln zusammenhängen, wenn die Pfenningmagazine die Pfenningliederbögen verdrängt haben werden und die Todesstrafe nicht mehr sein wird!

      Werft einen Blick auf die Gestaltung des Platzes. Der gordische Knoten war gewiß einzig in seiner Art: deßgleichen war es das Labyrinth von Hampton-Court: deßgleichen ist es das Labyrinth von Beulah-Spa: deßgleichen waren es die Zipfel der steifen weißen Halsbinden, bei denen die Schwierigkeit, sie zu knüpfen, nur mit der offenbaren Unmöglichkeit, sie wieder aufzulösen, verglichen werden konnte. Aber welche Verwicklungen können denen von Seven Dials an die Seite gesetzt werden? Wo gibt es noch ein solches Labyrinth von Straßen, Höfen, Gassen und Winkeln? Wo noch eine solche reine Mischung von Engländern und Irländern, als in diesem verwickelten Theile von London? Wir behaupten es frei, daß wir die Wahrhaftigkeit der Legende bezweifeln, auf die wir die Aufmerksamkeit gelenkt haben: wir können uns einen Mann denken, der vorschnell genug ist, in einem Hause mit Miethsleuten auf's Gerathewohl nach einem Herrn Thompson zu fragen, während er an Alles denkt, nur nicht an die Gewißheit, in einem Hause von mäßigem Umfang wenigstens zwei oder drei Thompson's zu finden; aber einen Franzosen – einen Franzosen in Seven Dials! Pah! Es war ein Irländer. Tom King's Erziehung war in seiner Kindheit vernachlässigt worden, und da er nicht die Hälfte von dem verstand, was der Mann sagte, so hielt er es für ausgemacht, der Mann spreche französisch.

      Der Fremde, welcher sich zum erstenmale in Seven Dials befindet und gleich Belzoni am Eingange von sieben dunkeln Durchgängen steht, ohne zu wissen, welchen er zu wählen habe, sieht genug vor sich, um seine Neugierde und Aufmerksamkeit auf geraume Zeit wach zu halten. Aus dem unregelmäßigen Viereck, in das er getreten ist, laufen die Straßen und Höfe strahlenförmig nach allen Richtungen, bis sie sich in dem ungesunden Dunste verlieren, der auf den Häusern liegt und die dunkle Perspective mit schwankenden Umrissen begränzt; und in jeder Ecke stehen Individuen, deren Persönlichkeit und Wohnung jeden Menschen, außer einen eingefleischten Londoner, mit Entsetzen erfüllen würde, gruppenweise versammelt, als wären sie hieher gekommen, um einige Züge jener frischen Luft zu erschnappen, die ihren Weg so weit hin gefunden hat, aber bereits zu erschöpft ist, um sich noch in die schmalen Nebengäßchen hineinzuzwängen. Auf der einen Seite hat sich eine kleine Truppe um ein paar Damen versammelt, welche im Lauf des Morgens verschiedene »Budel« Wachholder und Bittern in sich gesogen, endlich lange über einen gewissen Punkt der Hausordnung uneins geworden und eben im Begriff sind, den Streit durch Berufung auf's Faustrecht satisfactorisch beizulegen, wobei sich andere Damen, die in demselben Hause und in anstoßenden Gemächern wohnen, sehr interessiren, indem sie sämmtlich die eine oder die andere Seite begünstigen.

      »Warum steckst du ihr nicht eine, Sara?« ruft eine halbgekleidete Matrone aufmunternd. »Wenn mein Mann sie in der letzten Nacht mit einer Kanne bewirthet hätte, ohne mein Wissen, ich würde ihr die sauberen paar Augen aus dem Kopfe reißen – der Hexe!«

      »Was ist los, Madame?« frägt ein anderes altes Weib, welches so eben auf den Kampfplatz gestürmt ist.

      »Was los ist?« erwiederte die erste Sprecherin, ohne sich von der Kämpferin, welche der Stein des Anstoßes gewesen, abzuwenden. »Hier ist die arme, liebe Frau Sulliwin, welche fünf lebendige Kinder hat und daher eines Nachmittags nicht in's Taglohn kann; aber was für Vetteln müssen das sein, die hergehen und ihr ihren Mann abspannen, nachdem sie zwölf Jahre verheirathet ist – nächsten Ostermontag jährt sich's, ich sah das Certificat erst letzten Dienstag,

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