Eine Geschichte aus zwei Städten. Charles Dickens
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Читать онлайн книгу Eine Geschichte aus zwei Städten - Charles Dickens страница 8
»Ja, ich war es, Miß Manette. Und Ihr werdet sehen, wie wahr ich eben von mir selbst gesprochen, als ich sagte, daß ich keine Gefühle habe und meine Beziehungen zu meinen Nebenmenschen bloß geschäftlicher Natur seien, wenn Ihr Euch vergegenwärtigt, daß ich Euch seitdem nie wieder gesehen habe. Nein, Ihr wart von jener Zeit an Tellsons Mündel, und ich hatte in anderen Geschäften des Hauses Tellson zu tun. Gefühle? Dafür finde ich weder Zeit noch Gelegenheit. Ich verbringe mein Leben damit, Miß, daß ich stets eine ungeheure finanzielle Waschanstalt im Gang halte.«
Nach dieser eigentümlichen Schilderung seines täglichen Geschäftslebens strich Mr. Lorry mit beiden Händen die flachsfarbige Perücke auf seinem Kopfe glatt (wohl ein unnötiges Bemühen, da ihre glänzende Oberfläche vorher schon nicht glatter hätte sein können) und nahm seine frühere Haltung wieder an.
»Wie Ihr bemerkt habt, Miß, paßt die seitherige Geschichte auf Euren bedauerten Vater; jetzt aber kommt der Unterschied. Wenn Euer Vater nicht gestorben wäre, als er – Ihr müßt nicht erschrecken. Warum fahrt Ihr so zusammen?«
Sie war wirklich zusammengefahren und faßte jetzt seinen Arm mit ihren beiden Händen.
»Ich bitte«, fuhr Mr. Lorry in beschwichtigendem Ton fort, indem er seine Linke von der Stuhllehne entfernte, um sie auf die flehenden Finger zu legen, die mit so heftigem Zittern seinen Arm umfaßt hielten – »ich bitte, bekämpft Eure Aufregung – eine Geschäftssache. Ich wollte sagen –«
Ihr Blick brachte ihn dermaßen außer Fassung, daß er innehielt, eine Abschweifung versuchte und dann von neuem anhub.
»Ich wollte sagen – wenn Monsieur Manette nicht gestorben, sondern nur plötzlich in aller Stille verschwunden und nach irgendeinem schrecklichen Platze entrückt worden wäre, den man wohl erraten, aber nicht ermitteln konnte; wenn er einen Feind gehabt hätte in einem Landsmann, dem ein Vorrecht zu Gebot stand, von dem zu meiner Zeit auch die kecksten Männer dort über dem Wasser drüben nur mit Flüstern sprachen – die Befugnis zum Beispiel, Förmlichkeiten auszufüllen, die irgend jemand für beliebige Zeit dem Vergessenwerden in einem Gefängnis überantworteten: wenn seine Gattin um Kunde von ihm sich vor König und Königin, Hof und Geistlichkeit in den Staub geworfen hätte, aber alles vergeblich – dann wäre die Geschichte Eures Vaters auch die jenes unglücklichen Mannes, des Doktor von Beauvais gewesen.«
»Ich bitte Euch flehentlich, mir alles zu sagen, Sir.«
»Es soll geschehen. Ich bin im Begriff. Könnt Ihr es ertragen?«
»Ich kann alles ertragen, nur nicht die Ungewißheit, in der Ihr mich schweben laßt.«
»Ihr sprecht gefaßt, und Ihr seid es wohl auch. Recht so.« Freilich schien er innerlich weniger befriedigt zu sein, als seine Worte ausdrückten. »Eine Geschäftssache. Betrachtet es als ein Geschäft, das abgetan werden muß. Wohlan, wenn die Frau dieses Doktors trotz ihres hohen Geistes und Mutes um dieses Umstandes willen so sehr gelitten hätte, daß sie noch vor der Geburt ihres Kindes« –
»Dieses Kind war eine Tochter, Sir.«
»Eine Tochter. Eine – eine – Geschäftsache – laßt Euch nicht beunruhigen, Miß. Wenn die arme Dame so furchtbar gelitten hätte, daß sie vor der Geburt ihres Kindes den Entschluß faßte, dem armen Wesen die Teilnahme an ihren eigenen Qualen zu ersparen, indem sie es in dem Glauben erzog, daß sein Vater tot sei – – Nein, kniet nicht nieder. Um Himmels willen, warum kniet Ihr denn vor mir?«
»Die Wahrheit. O mein lieber, guter, mitleidiger Herr, die Wahrheit!«
»Eine – eine Geschäftsache. Ihr bringt mich in Verwirrung, und wie kann ich ein Geschäft bereinigen, wenn mein Kopf nicht klar ist? Wir müssen uns zusammennehmen. Wenn Ihr nur so gut sein wolltet, mir zum Beispiel zu sagen, was neunmal neun Pence ausmacht, oder wie viele Schillinge man zu zwanzig Guineen braucht. Das wäre schon ermutigender und würde mich über den Zustand Eures Geistes beruhigen.«
Er führte sie sanft nach ihrem Stuhl; hier blieb sie, ohne auf seine Berufung unmittelbar zu antworten, so ruhig sitzen, und ihre Hände, die noch immer seinen Arm umfaßt hielten, zeigten gegen früher eine so augenfällig erhöhte Stetigkeit, daß er wieder ein Herz faßte.
»Recht so, recht so. Nur Mut. Geschäft – es handelt sich um ein Geschäft, um ein belangreiches Geschäft. Miß Manette, Eure Mutter hat es in der angeregten Weise mit Euch gehalten. Und als sie starb – ich glaube an gebrochenem Herzen, weil sie nie in dem fruchtlosen Forschen nach Eurem Vater innehielt –, konnte die von ihr zurückgelassene Waise zu einem blühend schönen, glücklichen Wesen heranwachsen, ohne daß die schwere Wolke der Ungewißheit, ob sich die Kräfte Eures Vaters im Kerker früh verzehrten oder eine Reihe von Jahren hinsiechten, Euer Dasein trübte.«
Während er diese Worte sprach, blickte er mit mitleidsvoller Bewunderung auf das wallende Goldhaar nieder, als komme es ihm vor, daß es sich bereits mit Grau zu mengen beginne.
»Ihr wißt, daß Eure Eltern kein großes Vermögen besaßen, und daß es Eurer Mutter und Euch gesichert worden ist. Etwas Neues, Gold oder sonstiges Eigentum betreffend, kann ich Euch also nicht mitteilen, wohl aber die Kunde –«
Er fühlte einen festeren Druck an seinem Handgelenk und hielt darum inne. Der Zug auf ihrer Stirn, der ihm schon so sehr aufgefallen war, hatte den Ausdruck des Schmerzes und Schreckens angenommen.
»Daß er – daß er aufgefunden worden ist. Er lebt. Daß er sich sehr verändert hat, ist freilich nur allzu wahrscheinlich; möglich, daß wir nur noch eine Ruine in ihm finden: doch wollen wir das Beste hoffen. Er lebt noch. Man hat Euren Vater nach dem Haus eines alten Dieners in Paris gebracht, und wir sind auf dem Wege zu ihm – ich, um seine Identität zu bestätigen, wenn ich kann. Ihr, um ihm durch Liebe und Kindesdienst das Leben ruhig und behaglich zu machen.«
Ein Schauder überströmte ihren Körper und ging von ihr aus auf ihn über. Vernehmlich zwar, aber mit leiser und angstvoller Stimme, als rede sie im Traum, sprach sie:
»Ich gehe hin, um seinen Geist zu sehen! Es wird sein Geist sein, nicht er.«
Mr. Lorry rieb ruhig die Hände, die seinen Arm festhielten.
»So, so. Jetzt wär' es heraus. Von dem Besten und dem Schlimmsten seid Ihr nunmehr unterrichtet. Ihr befindet Euch auf dem Weg zu dem armen, schwer mißhandelten Herrn; noch eine schöne Seereise und eine schöne Landreise, und Ihr werdet an seiner Seite sein.«
In demselben Ton, aber noch gedämpfter, fuhr sie fort:
»Ich bin frei, ich bin glücklich gewesen; und doch ist mir sein Geist nie nahe gekommen.«
»Noch eines«, sagte Mr. Lorry mit Nachdruck, als sehe er darin das beste Mittel, Aufmerksamkeit zu erzwingen; »er ist unter einem andern Namen aufgefunden worden. Sein eigener wurde entweder seitdem stets verheimlicht oder vergessen. Es wäre schlimmer als nutzlos, darüber Nachforschungen anzustellen – schlimmer als nutzlos, ausfindig machen zu wollen, ob er diese lange Reihe von Jahren übersehen oder absichtlich gefangen gehalten wurde. Solche Nachforschungen würden jetzt zu nichts Gutem führen, sondern im Gegenteil gefährlich werden. Besser, man schweigt ganz und gar über die Sache und schafft ihn, jedenfalls für eine Weile, fort aus Frankreich. Sogar ich vermeide es, davon zu reden, obschon mich meine Nationalität