Eine Geschichte aus zwei Städten. Charles Dickens
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Sie saß vollkommen still und unbewegt unter seiner Hand und war nicht einmal gegen die Stuhllehne zurückgesunken, trotz des Zustandes von Bewußtlosigkeit, in dem sie sich befand. Ihre Augen standen offen und waren auf ihn gerichtet: auch schien der vorerwähnte Ausdruck mit dem Meißel oder dem Brandeisen in ihre Stirn eingegraben zu sein. Sie hielt seinen Arm so fest umschlungen, daß er sich, um ihr nicht weh zu tun, scheute, ihre Hände loszumachen, und in dieser Not rief er, ohne sich von der Stelle zu rühren, laut um Hilfe.
Eine wild aussehende Weibsperson – Mr. Lorry bemerkte sogar in seiner Aufregung, daß sie selbst bis auf die Haare ganz rot aussah, in eine merkwürdig knapp anliegende Tracht gekleidet war und eine höchst wundersame Haube von der Gestalt eines mächtigen hölzernen Grenadierkübels oder eines großen Stiltoner Käses auf dem Kopf hatte – kam als Vortrab des Wirtshausgesindes in das Zimmer gerannt und erledigte alsbald die Frage seines Gebanntseins an die arme junge Dame damit, daß sie ihm mit sehniger Faust einen Stoß vor die Brust versetzte, demzufolge er gegen die nächste Wand flog.
»Das muß wahrhaftig ein Mannsbild sein«, dachte der atemlose Mr. Lorry in seinem Innern, als er den Widerstand der Mauer fühlte.
»Was soll eure Gafferei da!« rief die Weibsperson, gegen die Gasthausdienerschaft gewandt. »Warum geht ihr nicht, um das Nötige zu holen, und steht hier, um mich anzuglotzen? Ist denn so viel an mir zu sehen, he? Warum bringt ihr mir nichts? Gebt acht, ich mach' euch Beine, wenn nicht rasch Riechsalz, kalt Wasser und Weinessig herkommt. Nun, wird's bald?«
Es flog alles auseinander, um die gewünschten Belebungsmittel herbeizuschaffen, nur die Frau legte in der Zwischenzeit die Ohnmächtige sanft auf das Sofa. Sie zeigte dabei viel Geschick und Zartheit, nannte sie ihr »Schätzchen«, ihr »Vögelchen« und streifte mit Sorgfalt und Stolz das goldne Haar aus dem Antlitz der Patientin gegen die Schultern zurück.
»Und Ihr, Brauner, da«, sagte sie, entrüstet sich gegen Mr. Lorry umwendend, »konntet Ihr dem armen Kind nicht sagen, was Ihr ihm zu sagen hattet, ohne es auf den Tod zu erschrecken? Schaut sie an mit ihrem hübschen, blassen Gesicht und ihren kalten Händen. Treiben es alle Bankiers so?«
Mr. Lorry war von dieser schwer zu beantwortenden Frage so übermäßig betroffen, daß er nur aus der Ferne mit viel schwächerer Sympathie und Zerknirschung zuzuschauen vermochte, während das Mannweib, nachdem es die Hausdienerschaft unter der geheimnisvollen Drohung verbannt hatte, sie etwas nicht namhaft Gemachtes wissen zu lassen, wenn sie gaffend stehenbleibe, ihren Pflegling allmählich zur Besinnung brachte und durch Schmeichelworte bewog, das haltlose Köpfchen auf ihre Schulter zu legen.
»Ich hoffe, es macht sich jetzt bei ihr«, sagte Mr. Lorry.
»Dann ist jedenfalls Euer brauner Rock unschuldig daran. Mein Herzkäferchen.«
»Ich hoffe«, bemerkte Mr. Lorry nach einer abermaligen Pause schwacher Sympathie und Zerknirschtheit, »daß Ihr Miß Manette nach Frankreich begleiten werdet?«
»Sehr wahrscheinlich«, versetzte die entschiedene Frau. »Wenn es mir je beschieden gewesen wäre, daß ich über das Salzwasser soll, meint Ihr, die Vorsehung hätte mir dann meine Bestimmung auf meiner Insel angewiesen?«
Abermals eine schwer zu beantwortende Frage, weshalb Mr. Jarvis Lorry sich zurückzog, um darüber nachzudenken.
*
Fünftes Kapitel. Die Weinschenke.
Ein großes Weinfaß war auf die Straße gefallen und geborsten. Der Unfall hatte sich zugetragen, als man es abladen wollte; man konnte es nicht mehr halten. Durch die Gewalt des Anpralls sprangen die Reifen, und da lag es nun unmittelbar vor der Kellertüre wie eine Nußschale zerschellt auf den Steinen.
Wer in der Nähe war, gab seine Arbeit oder seinen Müßiggang auf und eilte nach der Stelle, um von dem Wein etwas abzufangen. Die rauhen, unregelmäßigen Pflastersteine, mit denen die Straße überall belegt war und die ausdrücklich dazu bestimmt zu sein schienen, die Annäherung aller lebenden Wesen zu lähmen, hatten die kostbare Flüssigkeit in kleine Lachen abgedämmt, die nach dem Maßstab ihrer Größe von lärmenden Banden umlagert wurden. Dort knieten einige Männer nieder, machten aus den aneinandergefügten beiden Händen Löffel und schlürften daraus, oder versuchten den Weibern, die sich über ihre Schultern niederbeugten, zu etwas zu verhelfen, ehe der Wein zwischen ihren Fingern durchgelaufen war. Hier brauchten Männer und Weiber alte Topfscherben als Trinknäpfe oder tauchten die Kopftücher der Frauen ein, um sie in den Mund der Kinder auszuwringen. Die einen bauten kleine Schlammdämme, um den entströmenden Wein aufzuhalten, andere stürzten nach der Weisung von Leuten, die von den Fenstern aus zusahen, da und dorthin, um die Bächlein abzuschneiden, die eine neue Richtung einschlagen wollten, und wieder andere hielten sich an die mit Hefe gefärbten Faßdauben, deren vom Wein getränkte Teile sie mit besonderem Hochgenuß beleckten und sogar benagten. Man bedurfte keiner Rinnen, um den Wein abzulassen; aber gleichwohl verschwand er und mit ihm so viel Staub, daß kein Gassenkehrer sauberer hätte fegen können.
Während der Dauer dieses Weinspiels tönte helles Gelächter und der Schall fröhlicher Stimmen aus dem Mund von Männern, Weibern und Kindern durch die Straße. Es ging zwar ziemlich roh, aber auch spaßhaft genug her; denn rasch hatte sich geselliges Wesen und die augenfällige Neigung eines jeden, sich dem andern anzuschließen, entwickelt, so daß es namentlich unter den Glücklicheren oder Leichtherzigeren bald zu fröhlichen Umarmungen, wechselseitigen Toasten, Händedrücken und selbst zu lustigen Tänzen kam, zu denen man sich zu Dutzenden vereinigte. Die Demonstrationen hörten übrigens ebenso plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatten, sobald der Wein ausgeschlürft war und die rechenartig arbeitenden Finger jede Stelle, wo er besonders massenhaft gestanden, mit der Zeichnung eines Bratrostes versehen hatten. Der Holzspalter setzte die Säge, die er in dem Scheit hatte stecken lassen, wieder in Bewegung. Die Frau kehrte nach ihrem auf der Türschwelle abgesetzten Aschentopf zurück, mit dem sie an sich selbst oder an ihrem Kinde den Schmerz der durchfrorenen Finger und Zehen zu beschwichtigen versuchte; Männer mit nackten Armen, verfilzten Haaren und leichenfahlen Gesichtern, die aus Kellergeschossen an das winterliche Licht emporgekommen waren, verschwanden wieder in ihren Höhlen, und über den Schauplatz verbreitete sich ein Düster, das ihm weit natürlicher stand als der Sonnenschein.
Es war ein Rotwein gewesen und die Stelle, wo er ausgeflossen war, eine enge Straße der Vorstadt Saint Antoine in Paris. Er hatte auch viele Hände, viele Gesichter, manchen nackten Fuß und manchen Holzschuh gefärbt. Die Hände der Holzhacker ließen rote Fingerabdrücke an den Scheiten zurück, und die Stirn des Weibes mit dem Kind war von dem alten Lumpen befleckt, den sie sich wieder um den Kopf gewunden. Diejenigen, die sich an den Faßdauben erlabt hatten, zeigten ein getigertes Untergesicht, und ein auf diese Weise beschmierter, langer Spaßmacher, an dessen Kopfseite eine schmutzige, lange Zipfelmütze niederfiel, malte mit seinen in die trübe Weinhefe getauchten Fingern das Wort Blut an eine Wand.
Es sollte eine Zeit kommen, in der auch solcher Wein in den Straßen ausgegossen wurde und sein Rot viele Pflastersteine färbte.
Als nun auf Saint Antoine die Wolke wieder lagerte, die ein flüchtiger Sonnenblick von seinem Antlitz verdrängt hatte, trat abermals tiefe Finsternis ein; Kälte, Schmutz, Krankheit und Not waren die Kammerherrn des Heiligen – lauter mächtige Edle, namentlich der letztere. Abgezehrte Fabrikarbeiter standen fröstelnd an den Ecken, gingen in den Häusern aus und ein, schauten aus jedem Fenster und ließen ihre armseligen Fähnlein im Winde flattern. Die Fabrik, in der sie sich so heruntergearbeitet