Unterwegs und Daheim. Mark Twain
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»Sie ist kein Kind; sie ist verheiratet, und der Herr, der neben ihr sitzt, ist ihr Mann!«
»Hat sie auch Kinder?«
»Ja, sieben und ein halbes.«
»Das ist unmöglich!«
»Nein, es ist die reine Wahrheit. Sie hat es mir selbst gesagt.«
»Aber – sieben und ein halbes? – Was soll das halbe bedeuten?«
»Das ist aus einer anderen Ehe – solch ein Stiefkind wird nur halb gerechnet.«
»Aus einer anderen Ehe? So hat sie schon einmal einen Mann gehabt?«
»Ja, vier; dies ist der vierte.«
»Ich glaube kein Wort davon, die Unmöglichkeit liegt ja auf der Hand. Ist der Knabe ihr Bruder?«
»Nein, ihr Sohn und zwar der jüngste. Er ist nicht so alt wie er aussieht, erst elf und ein halbes Jahr.«
»Das ist alles vollständig unmöglich! Die Sache scheint mir ganz klar: sie haben gesehen, wen sie vor sich hatten, und dich zum Narren gehalten. Ich bin froh, daß ich nichts damit zu schaffen habe; hoffentlich denken sie nicht, wir zwei seien. Leute vom gleichen Schlage. Wollen sie denn lange hier bleiben?«
»Nein, sie reisen noch vor Mittag ab.«
»Ich kenne jemand, der herzlich froh darüber ist. Wo hast du es erfahren? Du hast sie wahrscheinlich gefragt?«
»Nein, zuerst fragte ich im allgemeinen nach ihren Plänen, und sie sagten, sie würden eine Woche hier bleiben und Ausflüge in die Umgegend machen. Gegen das Ende der Unterhaltung äußerte ich dann, wir würden sie gern auf ihren Touren begleiten und schlug vor, dich zu holen und ihnen vorzustellen. Dann zögerten sie ein wenig und fragten, ob du aus derselben Anstalt seiest wie ich. Ich sagte ja, worauf sie bemerkten, sie hätten sich anders besonnen und wollten sofort nach Sibirien abreisen, um einen kranken Verwandten zu besuchen.«
»Das setzt deiner Dummheit die Krone auf! So weit hat es noch niemand gebracht. Wenn du vor mir stirbst, setze ich dir ein Denkmal von Eselsköpfen, so hoch wie der Straßburger Kirchturm! Sie wollten wirklich wissen, ob ich aus derselben Anstalt wäre wie du? – Was für eine Anstalt meinten sie denn?«
»Ich weiß nicht, es fiel mir nicht ein, danach zu fragen.«
»Aber ich weiß es! – Sie meinten ein Irrenhaus, eine Anstalt für Blödsinnige. Und jetzt halten sie uns doch für zwei gleiche Narren. – Siehst du nun, was du angerichtet hast? Schämst du dich gar nicht?« –
»Weshalb auch? – Meine Seele dachte an nichts Böses; was schadet es denn? Es waren sehr nette Leute und ich schien ihnen zu gefallen.«
Harris machte einige grobe Bemerkungen und begab sich in sein Schlafzimmer – um Tische und Stühle kurz und klein zu schlagen, wie er sagte. Er ist ein merkwürdig cholerischer Mensch und die geringste Kleinigkeit bringt ihn ganz außer sich. –
Die junge Dame hatte mich schön in die Klemme gebracht, aber an Harris habe ich mich wieder schadlos gehalten. Man muß sein Mütchen immer auf eine oder die andere Weise kühlen, sonst schmerzt die wunde Stelle noch lange.
(Nummer 1.)
Von Luzern aus machte ich eines Tages einen Ausflug auf dem Dampfer nach Flüelen. Es war ein prächtiger sonniger Tag, und unter dem Dach von Segeltuch saßen die Passagiere plaudernd und lachend auf den Bänken des oberen Verdecks und ließen ihr Entzücken über die wunderbare Scenerie von Zeit zu Zeit laut werden. Man kann sich auch wirklich kein herrlicheres Vergnügen denken, als eine Fahrt auf diesem See! Die Berge waren ein immer neues Wunder und stiegen manchmal so gerade aus dem See auf und ragten so gewaltig in die blaue Luft empor, daß unser winziges Dampfboot zu ihren Füßen ganz zu verschwinden schien.
Es sind dies keine Schneeberge, aber doch umhüllen die Wolken ihre Häupter, sie starren nicht als nackte Felsen in die Höhe, sondern sind in Grün gekleidet, das dem Auge wohlthuend ist und auf dem es gerne weilt; ihre Abhänge sind so steil, daß man sich nicht vorstellen kann, wie sich auf ihnen Fuß fassen läßt; aber es führen Pfade hinauf und herunter, welche die Schweizer täglich benutzen.
Manchmal hingen die Gipfel der mächtigen Riesenberge weit nach vorn über, wie ein vorstehendes Mansardendach, und auf der äußersten Spitze desselben, dem Auge kaum sichtbar, klebten winzige Dingerchen wie Schwalbennester, – die Hütten der Bauern, die sich wahrlich einen luftigen Wohnort aufgesucht hatten! Wenn nun aber ein Bauer dort oben nachtwandelt, – oder sein Kind aus dem Vordergarten hinunterstürzt, – was für eine lange Reise für die Verwandten aus ihren Wolkenhöhen herab, ehe sie die Gebeine des Verunglückten auffinden können! Und doch sehen diese Heimstätten da oben so verlockend aus, so fern von der unruhigen Welt, und in einer Atmosphäre von so süßem, traumseligem Frieden, daß, wer einmal gelernt hat, dort oben zu wohnen, gewiß nicht wieder in niedere Regionen herabsteigen mag!
Zwischen den ungeheuren grünen Mauern wand sich der See in reizenden Krümmungen dahin, und wir sahen mit stets wachsendem Entzücken das großartige Panorama sich hinter uns zusammenrollen und verschwinden und sich vor unsern Blicken in neuer Schönheit entfalten! Dann und wann durchzuckte uns ein wonnevoller Schauer der Überraschung, wenn sich plötzlich als glänzend weiße Masse die ferne, alles beherrschende Jungfrau vor uns erhob, oder ein anderer ähnlicher Schneeriese, der mit Haupt und Schultern über die Spitzen der mittelhohen Alpen hervorschaute.
Während ich einen solchen Anblick mit den Augen verschlang und mir Herz und Sinn daran weidete, so lange er zu genießen war, hörte ich plötzlich eine junge und harmlose Stimme neben mir die Worte sagen:
»Sie sind wohl ein Amerikaner? Ich auch!« –
Er war zwischen 18 und 19 Jahre, schlank, von mittlerer Größe, das Gesicht offen, frei und froh, der Blick unstät, aber selbstbewußt, die Nase leicht nach oben gerichtet, als suche sie der Begegnung mit dem ersten Flaum des jungen Bartes auszuweichen, die Kinnbacken lose hängend und äußerst beweglich. Er trug einen niedrigen Schlapphut mit schmaler Krempe und blauem Band, auf dem vorn ein weißer Anker gestickt war; sein kurzer Rock, die Beinkleider, die Weste, alles saß sauber und nett nach der Mode; die rotgestreiften Strümpfe steckten in vorschriftsmäßigen, mit schwarzen Bändern gebundenen Lederschuhen; ein blauer Schlips unter dem weit offenen Kragen, kleine Diamantknöpfe im Hemd, tadellos sitzende Handschuhe, vorstehende Manschetten mit großen Knöpfen von oxydiertem Silber und einem Hundekopf darauf – einem englischen Mops; auch auf seinem Spazierstöckchen war der Kopf eines Mopshundes mit roten Glasaugen. Unter dem Arm trug er Ottos deutsche Grammatik, sein Haar war kurz geschnitten, glatt und – wie ich bemerkte, als er sich umwandte – hinten sorgfältig gescheitelt. Er nahm eine Zigarette aus einer zierlichen Schachtel heraus, steckte sie in eine Meerschaumspitze, die er in einem Futteral von Marokkoleder bewahrte, langte nach meiner Zigarre, und wahrend er sich Feuer machte, sagte ich:
»Ja, ich bin Amerikaner!« –
»Das wußte ich, – ich erkenne die Amerikaner immer. In welchem Schiff sind Sie herübergekommen?«
»In der Holsatia.«
»Wir in der Batavia, – Cunard, Bekannte Linie dieses Namens. – wissen Sie. Was für eine Überfahrt