Lourdes. Emile Zola

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Lourdes - Emile Zola

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mein lieber Gérard?« fragte er den jungen Mann, der neben ihm saß.

      »Ohne Zweifel, wenn ich die Frau finde, die ich brauche«, antwortete dieser. »Vorwärts, Vetter! Gib mir einen guten Rat!«

      Gérard de Peyrelongue, ein kleiner, magerer Mann mit rötlichbrauner Gesichtsfarbe, kräftig ausgebildeter Nase und stark hervorstehenden Backenknochen, stammte aus Tarbes, wo sein Vater und seine Mutter vor kurzem gestorben waren und ihm eine Rente von mehr als achttausend Frank hinterlassen hatten. Von starkem Ehrgeiz beseelt, hatte er in seiner Provinz die Frau nicht finden können, die er wollte, eine Frau aus einer vornehmen Familie, durch deren Verwandte er hoch steigen und es weit bringen würde. Auch er war der Hospitalität NotreDame de Salut beigetreten und begab sich ebenfalls jedes Jahr nach Lourdes in der unbestimmten Hoffnung, daß er dort unter der Menge der Gläubigen die Familie finden würde, deren er bedurfte, um seinen Weg in dieser Welt hienieden zu machen. Aber obgleich ihm schon mehrere junge Mädchen zu Gesicht gekommen waren, hatte doch noch keine ihn vollständig befriedigt.

      »Nicht wahr, du wirst mir einen guten Rat geben ... Da ist zuerst Fräulein Lemercier, die mit ihrer Tante hierherkommt. Sie ist sehr reich, man spricht von mehr als einer Million. Aber sie stammt nicht aus unseren Kreisen, und ich halte sie für einen argen Tollkopf.«

      Berthaud hob den Kopf.

      »Ich habe dir schon gesagt, ich, für meine Person, ich würde Fräulein von Jonquière nehmen, die kleine Raymonde.«

      »Aber sie hat ja keinen Sou.«

      »Das ist wahr, kaum so viel, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber ihre Person allein genügt schon vollständig. Sie ist vortrefflich erzogen und hat keine Neigung zum Verschwenden. Das ist ausschlaggebend, denn was hat es für einen Zweck, eine Reiche zu nehmen, wenn sie alles verbraucht, was sie dir mitbringt? Und dann, siehst du, kenne ich diese Damen gut, denn ich treffe sie während des Winters in den Salons von Paris. Du darfst schließlich auch den Onkel nicht vergessen, den Diplomaten, der den traurigen Mut gehabt hat, im Dienste der Republik zu bleiben, und der aus dem Neffen machen kann, was er will.«

      Einen Augenblick war Gérard in seinem Entschlusse wankend geworden.

      »Nicht einen Sou! Nicht einen Sou! Nein! Das ist zu arg ... Ich will es mir lieber noch überlegen, ich habe wirklich zu große Angst!«

      Diesmal fing Berthaud laut zu lachen an.

      »Aha, du bist ehrgeizig, da muß man allerdings ein guter Rechner sein. Ich sage dir, du hast ein Gesandtschaftssekretariat, ehe zwei Jahre vergehen ... Die Damen befinden sich übrigens in dem weißen Zuge, den wir erwarten. Entscheide dich also, mache ihr den Hof!«

      »Nein, nein ... Später! Ich will es mir erst noch einmal überlegen.«

      In diesem Augenblicke wurden sie unterbrochen. Baron Suire, der schon zweimal an ihnen vorübergegangen war, ohne sie zu bemerken, hatte soeben das Kinderlachen des ehemaligen Staatsanwalts der Republik erkannt. Sofort erteilte er ihm mit unglaublicher Zungenfertigkeit verschiedene Befehle, wobei er heftig beklagte, daß man die Kranken nicht gleich nach der Ankunft in die Grotte bringen konnte wegen der frühen Morgenstunde.

      Während der Baron und der Vorstand der Krankenträger die zu ergreifenden Maßregeln besprachen, drückte Gérard einem Priester die Hand, der sich neben ihm niedergelassen hatte. Der kaum achtunddreißigjährige Abbé des Hermoises war ein eleganter Weltgeistlicher, ein sorgfältig frisierter und parfümierter, sehr liebenswürdiger und sehr vornehmer Liebling der Frauen. Er kam wie viele nur zum Vergnügen nach Lourdes. Aus seinen Augen leuchtete ein lebhafter Verstand, und seine Lippen umspielte das Lächeln eines Skeptikers, der über allen Götzendienst erhaben ist.

      »Nun«, fragte er Gérard, »macht dieses Warten in der Nacht nicht einen tiefen Eindruck? Ich bin einer Dame wegen hier, einer meiner ehemaligen Beichtkinder in Paris. Ich weiß zwar nicht genau, mit welchem Zuge sie kommt, aber ich bleibe doch, so lebhaft interessiert mich das Ganze.«

      Ein anderer Geistlicher, ein alter Landpfarrer, mischte sich in das Gespräch und sprach in freundlichem Tone von der Schönheit der Gegend von Lourdes. Es sei wie in einem Theater, wenn die Berge beim Aufgang der Sonne sichtbar würden, wie es gerade jetzt der Fall war.

      Plötzlich geriet alles in Aufregung. Der Bahnhofsvorstand erteilte mit lauter Stimme Befehle. Der Pater Fourcade ließ den Arm des Doktors Bonamy los und trat hinzu.

      »Ach, es ist wegen des Eilzugs von Bayonne, der Verspätung hat«, antwortete der Vorstand auf alle an ihn gerichteten Fragen. »Die Sache beunruhigt mich.«

      In diesem Augenblick ertönte das Läutewerk von neuem, ein Bahnbediensteter eilte, eine Laterne schwingend, in die Finsternis hinaus, während in der Ferne ein Signallicht erschien.

      »Ah! Diesmal ist es der weiße Zug!« rief der Stationsvorsteher. »Hoffentlich haben wir noch genügend Zeit, unsere Kranken auszuladen, bevor der Expreßzug einläuft.«

      Er eilte weiter und verschwand. Berthaud rief Gérard zu sich, der eine Abteilung von Krankenträgern leitete. Sie beeilten sich, zu ihren Leuten zu kommen, bei denen sie den Baron Suire schon in voller Tätigkeit fanden. Die Krankenträger strömten von allen Seiten herbei und machten sich an ihre Arbeit. Sie zogen ihre kleinen Wagen bis an die Haltestelle des weißen Zuges, einem unbedeckten Teil des Bahnsteiges, der in tiefer Finsternis lag. Bald befand sich dort ein Lager von Kissen, Matratzen und Tragbahren, die alle auf die Kranken warteten, während Pater Fourcade, Doktor Bonamy und die anderen Geistlichen und Herren, sowie der Dragoneroffizier die Geleise überschritten, um bei der Ausladung behilflich zu sein. Noch sah man nur in weiter Ferne die Lokomotive, die einem roten, immer größer werdenden Sterne glich. Pfiffe gellten durch die Nacht. Dann schwiegen sie plötzlich, und es war nur noch das Schnauben der Lokomotive und das Rollen der Räder zu vernehmen, das allmählich immer langsamer wurde. Man hörte den Gesang, das Klagelied der Bernadette, das der ganze Zug sang, mit den Aves am Schlusse eines jeden Verses. So fuhr denn dieser Leidens und Glaubenszug, dieser klagende und singende Zug in Lourdes ein und hielt.

      Sofort wurden die Türen geöffnet, und die Pilger und die Kranken, die gehen konnten, strömten heraus und überfluteten den Bahnsteig. Die wenigen Gaslaternen beleuchteten spärlich diese armseligen Menschen in den fragwürdigen Kleidern, beladen mit allen möglichen Gepäckstücken, mit Körben, mit Mantelsäcken und Holzschachteln. Aus der aufgeregten Menschenmenge heraus, die nicht wußte, nach welcher Seite sie sich wenden sollte, ertönte wirres Geschrei, Rufe wurden laut von Leuten, die sich verloren hatten und einander suchten, während an einer andern Stelle Freunde und Verwandte sich begrüßten und umarmten. Eine Frau erklärte mit einem Blicke seliger Befriedigung: »Ich habe gut geschlafen.« Ein Kurat ging mit einem Mantelsack von dannen, einer verwachsenen Dame »Guten Erfolg!« zurufend. Die meisten machten ein betroffenes, verschlafenes und zugleich freudiges Gesicht, wie Leute, die ein Vergnügungszug auf einem unbekannten Bahnhof absetzt. Das Gedränge wurde schließlich so arg und die Verwirrung nahm bei der Finsternis derart zu, daß die Reisenden die Beamten nicht mehr verstanden, die mit lauter Stimme: »Hierher! Hierher!« riefen, um die Räumung des Bahnsteigs zu beschleunigen.

      Schwester Hyacinthe war flink aus dem Wagen gestiegen, indem sie den Verstorbenen unter dem Schutze der Schwester Claire des Anges zurückließ. Sie hatte etwas den Kopf verloren und eilte nach dem Kantinenwagen, von dem Gedanken beseelt, Ferrand würde ihr helfen. Glücklicherweise traf sie dort den Pater Fourcade, dem sie den Vorfall erzählte. Er vermied es, durch irgendein Zeichen seinen Verdruß darüber kundwerden zu lassen und rief den Baron Suire herbei, der vorüberging. Einige Sekunden flüsterten sie miteinander. Dann eilte der Baron hinweg und brach sich mit zwei Krankenträgern, die eine Bahre trugen, durch die Menschenmenge einen Weg. Der Tote wurde hinweggetragen wie ein Kranker,

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