Lourdes. Emile Zola
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Schwester Hyacinthe war inzwischen in den Wagen zurückgeeilt, nachdem sie die Schwester SaintFrançois und Ferrand gebeten hatte, auf dem Bahnhofsplatze bei dem reservierten Wagen zu warten, der sie zusammen nach dem Hospital NotreDame des Douleurs bringen sollte. Als sie sagte, daß sie noch ihren Kranken beim Aussteigen behilflich sein möchte, wollte Marie nicht zugeben, daß sie sich mit ihr befaßte.
»Nein, nein! Sie brauchen sich meiner nicht anzunehmen, liebe Schwester, ich will bis zuletzt hierbleiben ... Mein Vater und der Abbé Froment holen die Räder im Gepäckwagen. Ich warte hier ruhig, bis sie wiederkommen. Sie wissen ganz genau, wie alles gemacht wird, und werden mich dann wegführen. Sie brauchen sich also meinetwegen keine Sorge zu machen.«
Auch Herr Sabathier und der Bruder Isidor wünschten nicht eher fortgebracht zu werden, als bis sich die Menge etwas verlaufen hätte. Frau von Jonquière, die sich der Grivotte angenommen hatte, versprach dafür Sorge zu tragen, daß Frau Vêtu in einem Ambulanzwagen fortgeschafft würde. Schwester Hyacinthe entschloß sich, sofort aufzubrechen, um alles im Hospital vorzubereiten. Sie nahm auch die kleine Sophie Couteau mit und Elise Rouquet, der sie das Gesicht sorgfältig verhüllte. Vor ihnen ging noch Frau Maze fort, während Frau Vincent sich in der Menge durchkämpfte, nur von dem einen Gedanken beseelt, ihre Tochter, die totenbleich und bewußtlos auf ihrem Arme ruhte, so schnell als möglich in die Grotte zu bringen und dort zu Füßen der Heiligen Jungfrau niederzulegen. Auf dem viereckigen Platze, der an drei Seiten von niedrigen Bahngebäuden eingeschlossen ist, herrschte fürchterliches Durcheinander von Fahrzeugen aller Art. Die Hotelomnibusse trugen auf großen Schildern den heiligsten Namen, die von Maria und Jesus, vom heiligen Michael, vom Rosenkranz und vom heiligen Herzen. Dann folgte eine Menge von Ambulanzwagen und Landauern, Kabrioletts, Möbelwagen und kleinen Eselkarren, deren Kutscher schrien, fluchten und mit den Peitschen knallten. Es war ein Tumult, der durch die Dunkelheit, die die Laternen mit ihrem flackernden Licht zu durchdringen versuchten, nur noch vergrößert wurde. Der Gewittersturm hatte einen Teil der Nacht hindurch gewütet, die Fußgänger wateten bis an die Knöchel im Schmutze. Herr Vigneron, dem seine Gattin und Frau Claire in liebevoller Besorgnis folgten, trug seinen Sohn Gustave und dessen Krücke in den Omnibus des Hotels des Apparitions, in den auch er und seine Damen sich setzten. Frau Maze gab ängstlich dem Kutscher eines alten Coupés ein Zeichen, stieg ein und verschwand. Schwester Hyacinthe endlich konnte mit Elise Rouquet und Sophie Couteau in einem geräumigen Wagen Platz finden, in dem sich Ferrand und die Schwestern SaintFrancois und Ciaire des Anges niedergelassen hatten.
Beim Anblick der Menschenmenge trug Frau Vincent Bedenken, mit der teuren Last in ihren Armen weiterzugehen. Als sich der Bahnhof etwas leerte, wagte sie es. Wie schrecklich wäre es gewesen, wenn sie in diesen Pfützen, in diesem Stockdunkel mit dem Kinde zu Fall gekommen wäre! Als sie die Straße erreichte, bemerkte sie dort Gruppen von Frauen aus der Gegend, die den Fremden Wohnungen mit oder ohne Beköstigung, je nach ihrem Geldbeutel, anboten.
»Liebe Frau«, fragte sie ein altes Weib, »welches ist der Weg zu der Grotte, bitte?«
Die Frau gab ihr keine Antwort, sondern bot ihr nur ein Zimmer an.
»Alles ist besetzt; Sie werden nichts mehr in den Hotels finden ... Vielleicht werden Sie noch etwas zu essen bekommen, aber sicherlich nicht das kleinste Loch zum Schlafen.«
Essen, schlafen, oh, mein Gott! Wie durfte Frau Vincent daran denken mit dreißig Sous in der Tasche.
»Liebe Frau, bitte, welches ist der Weg nach der Grotte?«
Unter den Frauen, die an der Straße warteten, befand sich auch ein großes und starkes Mädchen in sauberer Kleidung, mit sehr einnehmendem Gesicht und gepflegten Händen. Sie zuckte mit den Schultern. Als ein Priester vorüberging mit breiter Brust und gesundheitstrotzendem Gesichte, stürzte sie auf ihn zu und bot ihm ein möbliertes Zimmer an. Unablässig folgte sie ihm, indem sie ihm fortwährend in die Ohren zischelte.
»Gehen Sie diesen Weg hinunter«, sagte schließlich ein anderes Mädchen, das mit der armen Frau Vincent Mitleid fühlte, »dann wenden Sie sich nach rechts und kommen so zu der Grotte.«
Auf dem Bahnsteig dauerte das Gedränge fort. Nachdem die gesunden Pilger und die Kranken, die gehen konnten, den Bahnsteig geräumt hatten, befanden sich die Schwerkranken noch dort, deren Transport viel Mühe verursachte.
Berthaud, der gefolgt von Gérard, lebhaft gestikulierend vorüberging, bemerkte in der Nähe einer Gaslaterne zwei Damen und ein junges Mädchen, die zu warten schienen. Er erkannte sofort Raymonde und hielt seinen Begleiter mit einer lebhaften Handbewegung zurück.
»Ah, mein gnädiges Fräulein! Wie glücklich bin ich, Sie wiederzusehen! Ihre Frau Mama befindet sich doch wohl, und Sie haben eine angenehme Fahrt gehabt, nicht wahr?«
Dann fügte er, ohne zu warten, hinzu:
»Mein Freund, Herr Gérard de Peyrelongue.«
Raymonde sah den jungen Mann mit ihren hellen Augen fest an.
»Oh, ich habe das Vergnügen, den Herrn zu kennen. Wir sind bereits früher in Lourdes zusammengetroffen.«
Gérard, der fand, daß sein Vetter Berthaud sehr eigenmächtig verfuhr, begnügte sich, eine sehr höfliche Verbeugung zu machen.
»Wir erwarten Mama«, nahm das junge Mädchen wieder das Wort. »Sie ist sehr beschäftigt, da sie sehr schwere Kranke hat.«
Die kleine Frau Desagneaux mit ihrem reizenden Kopfe und ihrem wirren blonden Haar erhob Einspruch und sagte, es geschähe der Frau von Jonquière ganz recht, da sie die ihr angebotenen Dienste zurückgewiesen hätte. Sie brannte vor Begierde, sich nützlich zu machen, während Frau Yolmar sich bescheiden und still im Hintergrunde hielt und nicht das geringste Interesse zeigte. Sie suchte nur mit ihren Augen, in denen ein Vulkan glühte, die Finsternis zu durchdringen, als ob sie jemand erwartete.
In diesem Augenblicke entstand ein großer Auflauf. Man trug Frau Dieulafay aus ihrer Wagenabteilung erster Klasse, und Frau Desagneaux konnte einen mitleidigen Klageruf nicht unterdrücken.
»Ach! Die arme Frau!«
Es war herzzerreißend, diese junge Frau zu sehen, wie sie in ihren Spitzengewändern in einem Sarge lag, in solch jämmerlichem Zustande, daß sie ein Stück Nichts zu sein schien. Sie wartete auf dem Bahnsteig, bis man sie forttragen würde. Ihr Gatte und ihre Schwester blieben bei ihr, beide sehr elegant und sehr traurig, während ein Diener und eine Kammerfrau mit den Gepäckstücken forteilten, um sich zu versichern; ob der Wagen, den man bestellt hatte, auch wirklich im Hofe hielt. Auch der Abbé Judaine stand bei der Kranken, und als zwei Männer sie emporhoben, beugte er sich zu ihr nieder, nahm von ihr Abschied und sagte ihr noch einige freundlich tröstende Worte, die sie aber nicht zu verstehen schien. Als er sah, wie man sie forttrug, fügte er, zu Berthaud gewendet, hinzu:
»Die armen Leute! Wenn sie doch nur die Heilung kaufen könnten! Ich habe ihnen aber gesagt, daß bei der Heiligen Jungfrau das Gebet für das kostbarste Gold gelte. Ich bin der festen Hoffnung, auch selbst genug gebetet zu haben, um den Himmel zu rühren ... Sie bringen aber trotzdem ein großartiges Geschenk mit, eine goldene Laterne für die Basilika, ein wahres Wunderwerk, mit wertvollen Steinen besetzt ... Möge sie die unbefleckte Maria eines Lächelns würdigen!«
Da kam Frau von Jonquière. Als sie Berthaud und Gérard bemerkte, rief sie: »Ich bitte Sie dringend, meine Herren, gehen Sie schleunigst zu dem Wagen, der dort ganz in der Nähe hält. Man hat dort Männer nötig, denn man muß drei oder vier Kranke herausholen ... ich bin ganz verzweifelt,