Der Kampf ums Recht oder Das unsichtbare Böse, 2. Band. Walter Brendel
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Am 19. Oktober: Haftbefehl wegen 68 Opfern an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze. 1992 bis 1995 erfolgt die Inhaftierung in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit. Am 26. Oktober 1993 kommt es zur Verurteilung durch das Berliner Landgericht zu sechs Jahren Gefängnis wegen „in Tateinheit begangener zweier vollendeter Morde und eines versuchten Mordes“ im Jahre 1931. Im August 1995 wird er aus gesundheitlichen Gründen vorzeitige aus der Haft auf Bewährung entlassen. 1998, im August: Alle Verfahren gegen Mielke werden aus gesundheitlichen Gründen eingestellt. Erich Mielke kommt endgültig nicht mehr vor Gericht. Das noch offene Verfahren wegen der Toten an der Mauer sei vom Berliner Landgericht wegen andauernder Verhandlungsunfähigkeit des 90jährigen endgültig eingestellt worden, sagte Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen. Auch die übrigen Vorwürfe würden nicht mehr aufgerollt. 1994 hatte das Berliner Landgericht schon einmal das Verfahren um die Toten an der Grenze gegen Mielke eingestellt, weil er auf Dauer verhandlungsunfähig sei. Diesen Beschluss hob später jedoch der Bundesgerichtshof auf Antrag der Anklagebehörde auf. Mielke-Anwalt Stefan König bezeichnete die Verfahrenseinstellung als längst überfällig.
Am 21. Mai 2000 stirbt Erich Mielke im Alter von 92 Jahren in einem Altenpflegeheim in Berlin-Hohenschönhausen wo er am 6. Juni in einem anonymen Urnengrab auf dem Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde beigesetzt wird.
Mielke war von 1957 bis zur Wende im November 1989 Minister für Staatssicherheit (MfS). Das von ihm geleitete MfS war die wohl meistgefürchtete und -respektierte Institution in der DDR. Eine DDR ohne Mielke ist heute nicht mehr vorstellbar, zu lange hat er hinter den Kulissen die Fäden in der Hand gehalten und die Umsetzung der Parteibeschlüsse nach eigenem Gutdünken durchgesetzt, zum großen Teil mit Gewalt. „Wer ist wer?“ war Mielkes Credo, auf dem er seinen Schnüffelapparat im In- und Ausland aufbaute. Er war der Herr über Operative Vorgänge, Inoffizielle Mitarbeiter; er entschied, ob ein politisches Urteil auf Tod lautete oder nicht. Wenn es in der am Ende in aller Stille gescheiterten DDR-Führung einen Repräsentanten des Roten Wedding gegeben hat, dann war das Erich Fritz Emil Mielke.
Erich Mielke wuchs mit der kommunistischen Jugendorganisation auf, früh und mit Begeisterung engagierte er sich in der Handballgruppe des Arbeitersportvereins „Fichte“. Bis er dann auch dem paramilitärisch organisierten, zeitweise verbotenen Rot-Frontkämpferbund beitrat. Dort grüßten sich die Genossen in den späten zwanziger Jahren im sicheren Lebensgefühl der unmittelbar bevorstehenden proletarischen Erhebung mit der Formel: „Bis bald, in Sowjetdeutschland!“ Wie viele seiner Altersgenossen war auch Erich Mielke früh in eine politische Kameradschaft geraten, die in den Stürmen und Bedrohungen der Zeit ein Minimum an Geborgenheit versprach. Nebenbei gab sie den Jugendlichen, wofür Jugendliche in einem bestimmten Alter ohnehin empfänglich sind: Eine feste politische Überzeugung, einen Standpunkt, eine Hoffnung auf den Weg in eine bessere Zukunft. Damals nannte man das Weltanschauung.
Es sind die proletarischen Lieder der Zeit, die neben Filmen wie „Kuhle Wampe“ bis heute eine einprägsame Vorstellung davon geben, wie diese Welt zwischen der kleinen Freiheit des Schrebergartens, der Spartakiade und der Hoffnung auf ein besseres Leben ausgesehen hat. Es war die Solidarität, die dem Proletarier aus der Vereinzelung befreite, ihm zu kollektiver Kraft, zu Selbstsicherheit und politischer Wirksamkeit verhalf. Die Solidarität, das Kollektiv waren Selbsthilfe, Stütze und Kampfform zugleich. Sie stählten den Einzelnen als Kämpfer, aber auch als Bedrohten, der den Gefahren der Verelendung, der Verzweiflung ausgesetzt war.
Dazu kam die gemeinschaftliche Lust der jungen Leute am Katz- und Mausspiel mit der Polizei, das bestenfalls halbbewusste Zündeln an einer in ihren gesellschaftlichen Grundlagen äußerst instabilen Demokratie: „Links, links, links, der Rote Wedding mar-schiert, hier wird nicht gemeckert, hier wird nicht gelacht, denn was wir spielen, ist Klassenkampf unterm Hintern der Bourgeoisie...“ Das war die Fun-Welt des jungen Mielke, halb weltverbesserisch, halb jugendlich-abenteuerlustig. Blutiger Ernst wurde es für ihn persönlich erst, als er von der KPD-Führung am 9. August 1931, im Alter von 23 Jahren, zum Doppelmörder gemacht wurde.
Mielke und sein Mittäter Erich Ziemer gehörten damals dem PSS, dem Parteiselbstschutz, einer radikalen, militärisch durchorganisierten Abspaltung des Rot-Frontkämpferbundes. Die Mitglieder, die selbstverständlich Decknamen trugen und im Geheimen agierten, übten „die Kunst des Aufstandes“ und verstiegen sich in die Vorstellung, sie selbst seien die deutsche Sturmtruppe der kommunistischen Weltrevolution. Die intellektuellen Anführer hielten die sehr jungen Kämpfer ihrer Privatarmee ständig in einer Art Fünf-vor-zwölf-Stimmung. Mitte 1931 stand für sie fest: „Der bevorstehende Kampfwinter muss Sowjetdeutschland bringen.“ Der Hauptfeind war tragischerweise die als „sozialfaschistisch“ eingestufte SPD. Gegen sie ging die KPD im Sommer 1931 ein „taktisches Bündnis“ mit Hugenberg und Hitler ein. Die Folgen sind bekannt.
Die Polizistenmorde auf dem Berliner Bülowplatz, der später in Horst-Wessel-Platz und dann in Rosa-Luxemburg-Platz umbenannt wurde, stellten für Mielke die Lebensweichen. Die politisch Verantwortlichen - Ernst Thälmann, Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck - hatten zwei junge Männer instrumentalisiert. Anschließend ließen sie die beiden - gegen den erklärten Willen Mielkes - in die Sowjetunion abtauchen. Obwohl viel zu jung und parteiorganisatorisch unerfahren, wurde Mielke dort an der Lenin-Schule zum Berufsrevolutionär ausgebildet. Diese durchaus nicht selbstbestimmte Wendung in seiner Biografie machte ihn zum Aktivisten im euro-päischen Bürgerkrieg: In der stalinistischen Sowjetunion, im Spanischen Bürgerkrieg, in Frankreich und später in der SBZ/DDR.
Diese plötzliche, unfreiwillige Wendung ließ Mielke bis zum Lebensende gleichsam unerwachsen bleiben, unfähig zur Umkehr, zum Umdenken oder auch nur zum Selbstzweifel. Alle, die ihn in dieser geistigen Fixierung auf die frühen dreißiger Jahre zu stören schienen, wurden automatisch zu Feinden in der DDR: Es waren die „Abweichler“, die „Verräter“, die „Sozialdemokraten“ und „Renegaten“. Um es in seinen Worten von 1962 zu sagen: „Wir sind verpflichtet, dass wir einheitlich und geschlossen hinter unserer Parteiführung stehen. Die Beschlüsse unserer Partei sind goldrichtig. Wir haben eine saubere Politik in der DDR.“
Eine Woche nach den Bülowplatz-Morden schrieb Carl von Ossietzky in der „Weltbühne“ eine Vorschau auf den späteren Aufstieg und Fall der DDR: Die KPD werfe massenhaft diejenigen hinaus, „die unter Kollektivismus nicht den Verzicht auf eigenes Denken verstehen“, und bilde „in ihrer Geistesenge das Musterbild eines Staates, in dem die Autarkie ausgebrochen ist. So kann einmal Deutschland aussehen, wenn die Apostel der eigenen Kraft sich durchsetzen sollten.“
Diesen von der KPD in ihrer borniertesten Phase geschmiedeten Menschentypus verkörperte Erich Mielke. Den meisten wird er als gewissensschwacher Verfolger, Herr der Spitzel, Mörder und Staatskrimineller in Erinnerung bleiben. Aber er war auch das Opfer einer Verblendung, die ihn zum Repräsentanten der Tragödien des 20. Jahrhunderts macht. Wie er in seinen letzten Jahren darüber dachte, wissen wir nicht. Einmal, 1993, äußerte er sich so: „Da sind Millionen gefallen - für Nichts. Für Nichts. Alles, wofür wir gekämpft haben - in Nichts hat es sich aufgelöst.“
Worin unterscheidet sich der juristische Umgang mit der DDR-Vergangenheit in Deutschland seit 1990 von der Praxis anderer Transformationsländer - vorzugsweise in Osteuropa?
Beim Blick auf die osteuropäischen Transformationsstaaten zeigt sich, wie sehr der jeweils eingeschlagene Weg der „Vergangenheitspolitik“ mit den Grundzügen der vorherigen politischen Ordnung, der Art des Übergangs und Besonderheiten der nachfolgenden