Der andere Jesus. Christine Kolbe
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Seine magischen Werke, sein mysteriöser Tod, sein Verschwinden aus der Grabkammer und sein tatsächlicher Verbleib werden anschaulich und überaus glaubwürdig beschrieben. Könnte es nicht so gewesen sein? Niemand kann heute mit Bestimmtheit sagen, wie sich alles zugetragen hat. Sogar die physische Existenz Jeheshuas, so sein hebräischer Name, wird zuweilen angezweifelt.
Diese Geschichte entwirft ein lebendiges Bild Judäas im Jahre 33 n.Chr. im Schatten der römischen Besatzung und der spirituellen Strömungen jener Zeit. Es ist eine Geschichte für alle, die an der Thematik interessiert sind, und eine überraschende Beschreibung der Umstände seines vermeintlichen Todes und der Zeit danach, die bis heute im Dunkeln liegen und nun erstmalig erhellt werden.
Der Fisch ist ein geheimes Zeichen der Anhänger Jesu in Zeiten der Verfolgung.
Es wird berichtet, dass man einander erkannte, indem man einen Halbbogen in den Sand malte. Vollendete der andere das Zeichen zu einem ganzen Fisch, gehörte er zu ihnen.
An eine Hauswand gemalt sagte es den Anhängern: Hier wohnt einer von uns.
1. Passahfest
Das große Tor wurde zur Nacht geschlossen. Mit lautem Getöse fiel es zu, und die Wächter verriegelten es mit dicken Eisenketten. Der Wachtposten auf der Mauer saß gähnend auf seinem Schemel. Blinzelnd blickte er nach Westen, wo die Sonne wie ein glühender Ball ihre letzten rot gefärbten Strahlen über das Land schickte.
Die kleine Karawane kam aus den Bergen des Sinai hinab in die Ebene.
Wenn die Stadttore verschlossen waren, wurde das Gelände unterhalb der Mauern lebendig. Die Verstoßenen, Aussätzigen und Bettler führten hier ihr grausames Regiment. Wer seine Beute oder erbettelte Habe nicht mit den anderen teilte, wurde verdroschen und wüst misshandelt. Deshalb brachten alle, soweit es sich nicht verbergen ließ, ihre ergaunerten Schätze wie Münzen, Brot, Käse, Weinschläuche und Früchte hierher auf den staubigen Platz unterhalb der Mauer, wo der Bettlerfürst streng und unnachgiebig regierte.
An diesem Tag saß ein Zwerg unter ihnen, den sie in der Gemeinschaft den Buckligen nannten. Er war eher gefürchtet als geachtet. Dennoch brachte man ihm Respekt entgegen, wenngleich sein Äußeres abstoßend war und seine fauligen Zähne einen üblen Geruch verbreiteten. Man sagte ihm nach, er stünde mit den Geistern im Bunde, und so manches Mal war es geschehen, dass er sich in Krämpfen am Boden wand und wirres Zeug von sich gab. Mal waren es unartikulierte Laute, mal Stimmen, die in fremden Sprachen schrill und unverständlich klangen.
Meistens war es jedoch die Sprache, die sie alle verstanden, und die Worte, die gurgelnd aus seiner Kehle quollen, jagten allen Schrecken und Angst ein. Es waren Worte des Zorns und der Zerstörungswut. Worte, die den Untergang von allem ankündigten und so lebendig beschrieben, dass die Umstehenden vor Angst das Weite suchten.
Manchmal sprach die wortgewandte Stimme Einzelne mit fremdem Namen an, wusste um ihre Geheimnisse und sorgte so für Tumult und Unfrieden. Man fürchtete diese Schrecken verbreitenden Anfälle, die den armen Buckligen so plötzlich überfielen, dass man sich nicht darauf vorbereiten konnte.
An diesem Abend, als das Bettelvolk beim Feuer unterhalb des großen Mauervorsprungs beisammen saß, um die heutige Ausbeute zu inspizieren, blickten alle nervös auf den Zwerg, der ahnungslos auf ein paar trockenen Datteln herumkaute.
Heute war Vollmond, und das war stets der Fall, wenn er in diesen gefürchteten Zustand fiel. Oftmals hatte er die kleinen und gro-ßen Vergehen, wie zur Seite gebrachte Diebesbeute oder Ähnliches, das unter dem Bettelvolk streng geahndet wurde, zur Sprache gebracht. Und hätte der Bettelfürst nicht ein so waches Auge auf den Zwerg gehabt, wäre er längst hinterrücks ermordet worden, um den gefürchteten und abscheulichen Darbietungen für immer ein Ende zu machen.
Auch heute beäugten ihn die Umstehenden mit dem ängstlichen Seitenblick der Verschwörer, die doch wieder ein paar Schekel zur Seite gebracht hatten, schon um sich auf der anderen Seite der Stadt eine Frau zu kaufen oder andere Geschäfte zu tätigen, von denen niemand etwas wissen sollte. Jeder, der gegen die Abmachung verstieß, wurde bestraft und aus der Gemeinschaft ausgestoßen, es sei denn, er gelobte, noch größere Beute beizubringen, um den Bettelfürst milde zu stimmen und die Gruppe zu besänftigen, damit sie ihn nicht gleich totschlugen.
Der Zwerg genoss diese gefürchtete Position. Er wusste nachher nicht, was mit ihm geschehen war, aber dass es etwas Besonderes gewesen sein musste, sah er in ihren Gesichtern. Niemals erfuhr er Genaues darüber, und er wollte es auch nicht wissen, solange er in der Gunst des Oberhauptes stand und täglich seine Ration an Wein, Brot und Münzen bekam, die unter allen verteilt wurde.
Die Gruppe hatte sich auf den staubigen Steinen rund um das Feuer niedergelassen und begann, ihre verteilte Habe zu verzehren und einige der Weinschläuche kreisen zu lassen, bevor sie sich zur Nacht auf den Mauervorsprüngen einrichteten, den Kopf auf ein Bündel Lumpen gebettet und mit ein paar Fellen notdürftig zugedeckt.
***
Mittlerweile war es dunkel geworden. Der helle Vollmond spendete so viel Licht, dass die kleine Karawane weiter auf die Stadt zuschritt, gemächlich, mit schwer beladenen Eseln und einem Tross von Fußvolk, das sich kein Gefährt erlauben konnte. In ihrer Mitte war ein Mann mittleren Alters, den sie den Magier nannten. Er trug einen roten Turban und um die Hüften einen braunen Ledergürtel, der mit seltsamen Zeichen reich verziert war. Seine Sprache war Arabisch, aber er verstand auch den Dialekt dieser Gegend, obwohl er ihn nur gebrochen sprach. Sein Ziel war die Stadt, die zur Sonnenwende ein großes Fest feierte und wo er als Wahrsager und Heiler sein Geld verdiente. Sein größter Erfolg war es, den Frauen, die nicht gebären konnten, zu der ersehnten Schwangerschaft zu verhelfen.
Heute wollten sie die Stadt erreichen, um dann am frühen Morgen durch das Stadttor zu ziehen und ihre Waren auf den Marktplätzen feilzubieten.
Abdul Ben Massa hatte ein kurzes Schwert unter dem langen, braunen Wollumhang verborgen. Man wusste, dass sich das Gesindel an der Stadtmauer niederließ, und er wollte vor Überraschungen sicher sein. Sein Kaftan wehte im Wind und eine frische Brise kam vom Meer herüber.
Sein Pferd, ein ausgemergelter Gaul, war darauf trainiert, auf die kleinste Berührung zu reagieren und konnte, wenn nötig, in einen schnellen Sprint fallen, um eventuellen Angreifern zu entkommen.
Sie ließen sich unter den Palmen nieder, die unweit der Stadt einen kleinen Hain bildeten. Wachen wurden postiert, und eine Gruppe jüngerer Frauen begann damit, Feuer zu machen, um noch vor der Nacht ein Essen zu bereiten. Abdul hielt sich abseits von der Gruppe. Er liebte es nicht, von den anderen umringt zu sein. Eine eigentümliche Unruhe hatte ihn ergriffen und so blickte er sich um, ohne genau zu wissen, was er eigentlich suchte.
Die Bettler hatten die Karawane kommen sehen, wagten aber nicht, mit Knüppeln und Steinen gegen die gut bewaffneten Posten vorzugehen. Sie würden am Morgen auf dem Marktplatz zu stehlen und zu betteln versuchen. Stets boten sie bereitwillig ihre Dienste an. Sie halfen beim Abladen der Waren, schleppten Wasserkrüge oder gaben vor, betuchte Käufer anlocken zu können. Aber sie taten