Der andere Jesus. Christine Kolbe
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Als der Morgen graute, sprengten einige Reiter in langen weißen Kaftanen heran. Es waren Herolde des Königs, die dem Statthalter neue Nachrichten zu überbringen hatten. Unter lautem Rufen öffneten die Wachen die schweren Stadttore. Das Quietschen der eisernen Angeln wurde nur noch von den Rufen der Esel übertönt, die lauthals nach Wasser verlangten.
Die Reiter verschwanden schnell in den Gassen der Stadt, um sich zum Palast des Statthalters zu begeben, der bereits auf ihr Eintreffen wartete. Die Meute Hunde, die den Reitern den Weg versperrten, um im Unrat der Gassen zu stöbern, stob nach allen Seiten auseinander.
Einer, der durch seinen schwarzen Gürtel mit silbernen Emblemen augenscheinlich der Anführer war, zog eine große Umhängetasche unter seinem Sattel hervor. Seine Begleiter flankierten ihn, wie um ihn vor etwaigen Angreifern zu beschützen. Im Schein einer Fackel, die wie gewohnt die ganze Nacht über an dem Portal brannte, trat er auf den kleinen Einlass zu, der sich an der seitlichen Einfassung befand. Ein Murmeln, gefolgt von Schlüsselklappern, war zu hören, als die kleine Pforte sich öffnete und die Reiter, bis auf einen Wachtposten, in dem umfriedeten Gelände verschwanden.
Schon beim ersten Morgengrauen war er erwacht, schweißgebadet von einem verwirrenden und bedrückenden Traum. Wieder war er ihm im Traum begegnet, der, auf den die Juden warteten und der nun bald erscheinen sollte. Sein Bettzeug war vom Schweiß getränkt und sein Atem ging schnell und unregelmäßig. Es war nun schon das siebte Mal, dass er diesen Traum träumte, in dem er ihn, den sie den Messias nannten, zum Tode verurteilte und in dem eine innere Stimme ihm sagte, dass dies ewige Verdammnis bedeuten würde.
Beim Geräusch des nahenden Dieners schreckte er hoch und bedeckte sich mit einem weiten Mantel, damit sein Leibwächter seine Verfassung nicht erkennen konnte. Seit Wochen fühlte er diese Bedrohung, diese Angst, in etwas hineingezogen zu werden, das fürchterlich und grauenvoll war. Aber war es nur das, oder rührte die Angst noch aus einem anderen Grund, den zu erkennen er nicht wagte?
Der Diener stellte wortlos Brot und Früchte bereit und verließ das Gemach, das an diesem Morgen stickig und schwül war. In den Gassen der Stadt tummelten sich schon zu Hunderten die Händler, die in der ganzen kommenden Woche die Stadt in einen einzigen Basar verwandeln würden. Es gab buchstäblich nichts, was hier nicht angeboten wurde. Brot, Früchte, Wein, süße Kuchen mit Rosinen, Töpfe, Kupfergeschirr, irdene Gefäße, Krüge, Schuhe, Lederwaren, lebende Tiere, Leinen und golddurchwirkte Brokatstoffe, Wolle, Farben zum Färben und natürlich all die Mixturen der Quacksalber, die die ominösesten Salben und Pulver verkauften, allesamt angeblich hochwirksam und heilkräftig bei jedem Gebrechen, das man sich denken konnte.
Die Kräuterweiber blieben unter sich. Auf dem Marktplatz bildeten sie einen Reigen von aufgetürmten Bündeln getrockneter Kräuter, die in keinem Haus fehlen durften.
In der hintersten Ecke des Marktes hatte Miriam einen kleinen Tisch mit den kostbaren Salbölen ihres Vaters aufgebaut. Duftende Blütenessenzen und seltene Balsamöle, die aus der Rinde bestimmter Bäume mühsam gewonnen wurden und die für das einfache Volk unbezahlbar waren.
Sie selbst hatte ihr Haar mit Orangenblüten geschmückt, und einige Locken ihres rötlichen Haares waren ihr in die Stirn gefallen. Ihr Bruder half ihr beim Aufbauen der Waren. Kleine Tonkrüge, mit Wachs verschlossen, und große Schalen, mit Blüten und Kräutern gefüllt, die noch frisch den Ölen beigemengt wurden. Eine kleine Schale kostbaren Salböls war auch dabei, die sie seit Kindertagen mit sich trug und die sie niemals verkauft hätte. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Öl für einen besonderen Anlass bestimmt war, der irgendwann in ferner Zukunft eintreten würde. Sie rückte die letzten Tonkrüge zurecht, als eilig dahinreitende Männer in weißen Umhängen Richtung Stadttor davonpreschten. Sie blickte ihnen nachdenklich nach. Was mochte sie so zur Eile antreiben?
Wenig später standen die ersten Käufer vor den Auslagen, beäugten die Waren, fühlten, probierten und feilschten, so, wie es immer war.
Der Lärm unzähliger Stimmen erfüllte die Gassen und drang in das Arbeitszimmer des Statthalters, der über die Schriften des Königs gebeugt saß. Sorgenfalten machten sich auf seiner Stirn breit. Er fächelte sich Kühle zu und las den letzten Abschnitt nun schon zum dritten Mal. Immer wieder stiegen Bilder aus dem Traum der vergangenen Nacht auf und schoben sich vor die Schriftstücke, die ausgebreitet vor ihm lagen. Er war Statthalter und in seiner Funktion auch oberster Richter, von dem unmissverständlich ein grausames Urteil gefordert wurde.
Er ließ sich schwer auf seinen Sessel fallen, um die Diener zu rufen, ihm ein Bad zu bereiten. Es war ihm, als könne er damit alle Sorgen von sich abwaschen.
Das leise Klirren von Glas ließ ihn aufschrecken. In dem wohlig warmen Wasser war er beinahe eingenickt. Der Diener reichte ihm einen Kelch mit frischem Most und eine Rebe mit reifen roten Trauben. Er verspürte keinen Appetit und ließ alles unberührt, um sich für die tägliche Audienzstunde anzukleiden. Seine Toga aus rotem Samt lag schwer auf seinen Schultern. Die goldene Kette zerrte an seinem Hals, wie sein Amt an seinen Nerven. Die Gedanken kreisten um die Schriftstücke und die Konsequenzen, die sich daraus für ihn ergaben. Heute sollte er eine Ansprache auf dem Balkon des Palais halten, um den Basar offiziell zu eröffnen. Dabei machte sich niemand die Mühe, auf diesen Auftritt zu warten. Man hatte bereits begonnen, die Waren feilzubieten, und niemand achtete mehr auf ihn, wie er schwankend dastand, die Augen zum Himmel gerichtet, so, als ob von dort Hilfe zu erwarten sei.
Er mochte eine Weile so dagestanden haben, als seine Gemahlin neben ihn trat –, die jubelnde Menge unter ihnen, die sich auf die kommenden Festtage freute. Sachte legte sie ihre Hand auf seinen Arm und blickte ihn fragend an.
Das Volk drängte sich in den Gassen, die von Staub und Hitze erfüllt waren. Überall türmten sich Warenberge, Ziegen und Esel, Hühner und anderes Getier liefen zwischen Körben mit Gemüse und Obst umher. Das kommende Fest wurde von jedermann sorgfältig vorbereitet. Den rituellen Reinigungen in den Badehäusern folgten strenge Fastentage, die mit Gebeten und Exerzitien ausgefüllt waren.
Nun war es an der Zeit, die Vorratskammern für das bevorstehende Fest zu füllen. In jedem Haus gab es die traditionellen Kuchen und Speisen, die nur zu diesem Anlass gebacken und zubereitet wurden. Alles fieberte dem Passahfest entgegen, und mit bunten Wimpeln wurden die Häuser gekennzeichnet, in denen in diesem Jahr ein Kind zur Welt gekommen war. Bei dem großen Gottesdienst wurden alle neugeborenen Kinder mit einem besonderen Segen versehen und damit in die jüdische Glaubensgemeinschaft aufgenommen.
Die Frauen trugen große Körbe mit den benötigten Lebensmitteln nach Hause. Alles wurde nach strengen Regeln in eigens dafür vorgesehenem Geschirr und Töpfen zubereitet. Die Zeit der faden Fastenspeisen war damit vorbei, und alle freuten sich auf das Beisammensein mit der Familie und dem ausgiebigen Speisen, das dem Besuch der Synagoge folgte.
Heute schien eine besondere Anspannung in der Luft zu liegen. Die Händler fuhren unwirsch ihre Zöglinge an, die Frauen kreischten und gerieten in Streit, das Vieh blökte unruhig, und einige Adler kreisten über der Stadt. Ein Zeichen, dass etwas Besonderes in der Luft lag.
Sollte es etwa wieder ein Erdbeben geben?, so fragte sich Miriam. Sie hatte feste Stammkundschaft, die für verschiedenste Zwecke regelmäßig das Öl bei ihr kaufte. Mal waren es Salbungen, die rituell bei Hochzeiten stattfanden, ebenso wie spezielle Öle, mit denen Neugeborene eingerieben wurden. Die Salböle zum Reinigen der Verstorbenen bewahrte sie extra in einem Korb unter dem schlichten Holztisch auf. Sie wollte das Auge der Käufer nicht darauf lenken.