Der andere Jesus. Christine Kolbe
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„Ist es wahr, Josef, dass auch du dazugehörst?“
„Ja, es ist wahr, und ich werde dir auch erklären, wie es dazu kam.
Ich war im Hause eines Freundes in Kapernaum. Er war sterbenskrank und die Familie hatte schon die Totenwache holen lassen. Alle waren davon überzeugt, dass der Mann in wenigen Minuten versterben würde. Mein Freund rief ihn zur Hilfe und wenig später sah ich ihn zum ersten Mal. Als er den Raum betrat, ging ein Raunen durch die Reihen. Eine Ruhe und ein Glanz umgaben ihn, wie ich es noch nicht einmal bei den hohen Feiertagen in der Synagoge erlebt habe. Er murmelte nur wenige Silben, währenddessen hielt er die Augen geschlossen, und eine Hand erhob er über die Bettstatt des Sterbenden. Wir alle waren auf die Knie niedergefallen. Es geschah etwas Heiliges, überaus Wesentliches. Wir achteten nicht mehr auf den Grund seines Kommens, so gebannt waren wir von seiner Person und seiner Aura.
Wenig später schlug der Sterbende die Augen auf, sein Gesicht leuchtete und er sprach unverständliche Worte. Der Fremde nickte und ging schweigend davon. Das war das erste Mal, dass ich ihm begegnete. Später habe ich seinen Belehrungen zugehört, habe die wahre Lehre erkannt, die er spricht, und bin ihm viele Male begegnet, wo immer es möglich war. Mal hat er geheilt, mal Streit geschlichtet oder einmal sogar Hunderte von Anhängern gespeist, indem er wundersam die wenigen Lebensmittel vermehrte. Er kommt von Gott zu den Menschen, und es liegt eine große Gnade darin, ihm zu begegnen.“
Der Statthalter hatte staunend zugehört. „Dann stimmt es also, was sie über ihn sagen, er sei von den Göttern gesandt und mit besonderen Gaben ausgestattet?“ Josef nickte.
Der Wunsch, ihm ebenfalls zu begegnen, stieg in ihm auf. Warum nur, so dachte er bei sich, war der Unglückselige mit dem Hohen Rat so streng verfahren, hatte sie Heuchler und Brudermörder genannt? Warum war er für sie gefährlich, so bedrohlich, dass sie seinen Tod forderten? Er bedauerte es in diesem Moment, ihm nicht selbst begegnet zu sein, um ihn zu fragen, warum er all dies auf sich zöge, wenn er weiter in der Öffentlichkeit auftrat mit seinen aufrührerischen Ideen.
„Josef“, so sprach er nun, „ist es möglich, dass auch ich ihm begegne, ohne dass jemand etwas davon erfährt, ohne in Amt und Würden zu sein? Sag, ist es möglich? Es liegt mir sehr viel daran, mir selbst ein Bild von ihm zu machen, bevor ich ihm den Prozess machen muss. Sag, ist es möglich?“
Eindringlich klang seine Stimme und Josef nickte nur still.
„Komm heute Abend zu meinem Haus. Komm allein, ohne deine Leibgarde. Ich werde dir meine Söhne schicken, dich zu begleiten. Nimm einen einfachen Umhang und sorge dafür, dass niemand dir folgt.“
Mit diesen Worten erhoben sie sich, umarmten sich kurz und Josef verließ das Palais mit schnellen Schritten.
Es war kein Laut zu hören, als er unbemerkt das Haus verließ. Josefs Söhne warteten bereits. Sein dunkler Umhang verbarg auch sein Gesicht und das schlichte Gewand, das er an diesem Abend trug. Er hatte all seinen Schmuck abgelegt und sorgsam darauf geachtet, mit einfachen Sandalen und einem schlichten Stock zur vereinbarten Zeit an der hinteren Pforte zu warten.
Jetzt, wo es bereits dämmerte, wurde es stiller in den Gassen. Er war überrascht, wie schmutzig und schwül es hier war. Noch nie war er zu Fuß in diesen Teil der Stadt gekommen, wo sich nach Anbruch der Dunkelheit seltsames Volk in die Mauernischen drückte. Es war ihm, als würde er beobachtet, doch seine Begleiter eilten in schnellem Schritt voran, sodass er kaum Zeit hatte, sich umzusehen.
Als sie in den unteren Teil der Stadt gelangten, war das letzte Licht erloschen und die wenigen Fackeln erleuchteten nur spärlich den Weg. Er war es nicht gewohnt, so lange Strecken zu Fuß zu gehen und sein Atem ging schnell. Schweiß rann ihm von der Stirn. Jedermann, dem sie begegneten, musste den Römer in ihm erkennen mit seinem sorgfältig rasiertem Gesicht.
Sie erreichten einen kleinen, von Zedern umstandenen Platz. Hier befand sich das Essener-Tor, wo der Weg hinaus aus der Stadt führte, und hier lag das Haus Josefs, das eingerahmt von hohen Mauern direkt an die Stadtmauer angrenzte. Hinter der Mauer lag ein prächtiger Garten, ebenfalls von hohen ausladenden Bäumen überragt. Ein kleiner Weg führte zum Haus, wo schwaches Licht aus den Fensteröffnungen den Vorplatz beleuchtete. Es war in jeder Hinsicht ein bemerkenswertes Haus, ganz schlicht konstruiert, doch mit einer Vielzahl von Besonderheiten ausgestattet. Ein großer ausladender Steintisch flankierte eine prächtige Rosenhecke, die über und über blühte. Duftende Kräuter und breite Rabatten von Lavendel säumten den Weg, der aus kleinen Steinen in einem Muster aus Rauten und Kreisen kunstvoll gestaltet war. Das Haus selbst war von Wein bewachsen, der ein dichtes Blattwerk bildete. Die obere Etage war mit einer Aussparung zu einer Terrasse gestaltet, wo Josef zuweilen Sternenkunde betrieb und den Himmel beobachtete.
Beim Eintreten bemerkte der Prokurator eine große Versammlung in dem ersten Raum, an dem er vorbeigeführt wurde. Er hatte nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen zugegen sein würden. Er schlug die Kapuze seines Umhangs zurück und ließ sich dankbar auf einen Stuhl fallen, der am Eingang des zweiten Raumes stand. Er sah eine Vielzahl von Personen, die hin- und hergingen, und eine spürbare Unruhe breitete sich aus. Er beobachtete all die Menschen, die ihm völlig fremd waren und die er noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte.
Seine Hand glitt zu einem Beutel, der gut versteckt unter seinem Gewand an einem Gürtel befestigt war. Er hatte einige Silbermünzen bei sich, die er den Söhnen zum Dank für ihre Führung zu übergeben gedachte. Gerade als er sich erheben wollte, hörte er laute Stimmen, die vom Eingang her zu ihm drangen.
Er sah seinen Freund Josef, wie er gerade einen groß gewachsenen Mann begrüßte. Er trug ein staubiges Gewand und einen dichten dunklen Bart. Er hatte sein Gesicht noch nicht erkennen können, doch beim Nähertreten war er sich sicher, dass er es sein musste.
Viele begrüßten ihn, indem sie ihn umarmten. Viele verneigten sich nur scheu vor ihm, bevor er ganz den Raum betreten konnte. Josef steuerte direkt auf den Prokurator zu, der still die Situation beobachtet hatte. Mit dem ersten Blick, den der Fremde auf ihn richtete, ging etwas wie eine Woge von Energie durch seinen Körper. Er bemerkte, wie seine Knie zitterten und sein Herz pochte. Der Blick des Mannes war genauso, wie er es geträumt hatte. Tief und eindringlich, als ob für diesen Blick nichts verborgen bleiben könnte.
Im nächsten Moment stand Josef vor ihm, um ihm den Fremden vorzustellen. Er verbeugte sich tief und ein Gefühl großer Freude durchwogte ihn. Der Fremde hatte nur kurz seine Hand erhoben, wie, um ihn zu segnen, als es plötzlich still in dem Raum wurde.
Ein Sessel wurde herbeigeholt, und er ließ sich dort nieder, wo alle Versammelten ihn sehen und hören konnten. Er lächelte still und führte einen Becher zum Mund, den man ihm reichte. Er segnete alle Anwesenden, das Haus und den Gastgeber und begann dann in aramäischer Sprache, die dem Prokurator nicht geläufig war, zu sprechen. Seine Stimme war tief und wohlklingend und alle hingen gebannt an seinen Lippen. Er schien ein Gebet zu singen, in das alle von Zeit zu Zeit einfielen, um einen Refrain mit zu intonieren.
Ein kleines Mädchen schmiegte sich fest an ihn, um ganz in seiner Nähe zu sein. Josef hatte eine Schale mit Räucherwerk entzündet, der Duft von Kräutern und Sandelholz durchzog den Raum. Der Fremde hatte sein langes lockiges Haar, das tief über seine Schultern fiel, zum Vorschein kommen lassen, als er seinen Umhang ablegte. Er lächelte unentwegt, und Freude und Glückseligkeit machten sich im Raum breit.
Die Kleine war nun auf seinen Schoß geklettert. Sie hielt ihren linken Fuß hoch, der, es war nun deutlich zu sehen, verkrüppelt war. Er stand schief und verkrümmt ab, sodass sie nur einen Strumpf trug statt einer Sandale. Sie strahlte und herzte den Mann, der nun sanft und leise mit ihr zu sprechen begann. Die Kleine lachte und hörte andächtig zu, als er ihr etwas zu erklären schien. Sie hob abermals den verkrüppelten