Deutsches Märchenbuch + Neues Deutsches Märchenbuch. Ludwig Bechstein
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Читать онлайн книгу Deutsches Märchenbuch + Neues Deutsches Märchenbuch - Ludwig Bechstein страница 27
drüben so schöne Blumen stehen, und horch nur, wie
allerliebst die Vögel singen! Ja es ist sehr schön im
Walde, sehr schön, und wachsen so gute Kräuter hierinne,
Heilkräuter, mein liebes Rotkäppchen.«
»Ihr seid gewiß ein Doktor, werter grauer Herr?«
fragte Rotkäppchen: »weil Ihr die Heilkräuter kennt.
Da könntet Ihr mir ja auch ein Heilkraut für meine
kranke Großmutter zeigen!«
»Du bist ein ebenso gutes als kluges Kind!« lobte
der Wolf. »Ei freilich bin ich ein Doktor und kenne
alle Kräuter, siehst du! hier steht gleich eins, der
Wolfsbast, dort im Schatten wachsen die Wolfsbeeren,
und hier am sonnigen Rain blüht die Wolfsmilch,
dort drüben findet man die Wolfswurz.« –
»Heißen denn alle Kräuter nach dem Wolf?« fragte
Rotkäppchen.
»Die besten, nur die besten, mein liebes, frommes
Kind!« sprach der Wolf mit rechtem Hohn. Denn alle
die er genannt, waren Giftkräuter. Rotkäppchen aber
wollte in ihrer Unschuld der Großmutter solche Kräuter
als Heilkräuter pflücken und mitbringen, und der
Wolf sagte:
»Lebewohl, mein gutes Rotkäppchen, ich habe
mich gefreut, deine Bekanntschaft zu machen; ich
habe Eile, muß eine alte schwache Kranke besuchen!«
Und damit eilte der Wolf von dannen, und spornstreichs
nach dem Hause der Großmutter, während
das Rotkäppchen sich schöne Waldblumen zum
Strauße pflückte und die vermeintlichen Heilkräuter
sammelte.
Als der Wolf an das Häuschen der Großmutter des
Rotkäppchens kam, fand er es verschlossen, und
klopfte an. Die Alte konnte nicht vom Bette aufstehen,
und nachsehen, wer da sei, und rief: »Wer ist
draußen?«
»Das Rotkäppchen!« rief der Wolf mit verstellter
Stimme. »Die Mutter schickt der guten Großmutter
Wein und auch Kuchen! Wir haben gebacken!«
»Greife unten durch das Loch in der Türe, da liegt
der Schlüssel!« rief die Alte, und der Wolf tat also,
öffnete die Türe, trat in das Häuschen, in das Stübchen,
und verschlang die Großmutter ohne weiteres –
zog ihre Kleider an, legte sich in ihr Bett, und zog die
Decke über sich her, und die Bettvorhänge zu. Nach
einer Weile kam das Rotkäppchen; es war sehr verwundert,
alles so offen zu finden, da doch sonst die
Großmutter sich selbst gern unter Schloß und Riegel
hielt, und wurd ihm schier bänglich um das junge
Herzchen.
Wie das Rotkäppchen nun an das Bett trat, da lag
die alte Großmutter, hatte eine große Schlafhaube auf,
und war nur wenig von ihr zu sehen, und das wenige
sah gar schrecklich aus. »Ach Großmutter, was hast
du so große Ohren?« rief das Rotkäppchen. – »Daß
ich dich damit gut hören kann!« war die Antwort. –
»Ach Großmutter! Was hast du für große Augen!« –
»Daß ich dich damit gut sehen kann!« – »Ei Großmutter,
was hast du für haarige große Hände!« –
»Daß ich dich damit gut fassen und halten kann!« –
»Ach Großmutter, was hast du für ein so großes Maul
und so lange Zähne!« – »Daß ich dich damit gut fressen
kann!« Und damit fuhr der ganze Wolf grimmig
aus dem Bette heraus, und fraß das arme Rotkäppchen.
Weg war's.
Jetzt war der Wolf sehr satt, und es gefiel ihm sehr
im Stübchen der Alten und in dem weichen Bett, und
legte sich wieder hin und schlief ein und schnarchte
daß es klang, als schnarre ein Räderwerk in einer
Mühle.
Zufällig kam ein Jäger vorbei, der hörte das seltsame
Geräusch, und dachte: Ei, ei, die arme alte Frau
da drinnen hat einen bösen Schnarcher am Leib, sie
röchelt wohl gar und liegt im Sterben! Du mußt hinein,
und nachsehen, was mit ihr ist. – Gedacht, getan;
der Jäger ging in das Häuschen, da fand er den Herrn
Isegrimm im Bette der Alten liegen, und die Alte war
nirgends zu erblicken. »Bist du da?« sprach der Jäger,
und riß die Kugelbüchse von der Schulter. »Komm du
her, du bist mir oft genug entlaufen!« – Schon legte er
an – da fiel ihm ein: halt – die Alte ist nicht da, am
Ende hat der Unhold sie mit Haut und Haar verschlungen,
war ohnedies nur ein kleines dürres Weiblein.
Und da schoß der Jäger nicht, sondern er zog seinen
scharfen Hirschfänger