Der Sohn des Verderbens. Paul Baldauf
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1. Kapitel
Er hüllte sich in seinen Mantel, verließ, nahezu fluchtartig, das Haus. Die Straßen rund um den Hasenpfuhl lagen zu dieser Zeit des Jahres verlassen da. Während unweit der Speyerbach ruhig und dunkel dahinfloss, erhob sich in Sichtweite die mächtige Kathedrale. Er knöpfte seinen Mantel zu und überquerte das Kopfsteinpflaster. In Nähe des Speyerbachs stieg er Treppenstufen empor und sah in träge vorüberziehendes Wasser. Dann wandte er sich wieder ab und schlug einen Weg ein, der ihn zum Holzmarkt führte. Eine kleine Gruppe von Menschen kam aus dem Kutscherhaus und verschwand bald im Gewirr der Gassen der Altstadt. Wohin jetzt? Ob sie gemerkt hat, dass ich gegangen bin? Er blieb stehen, seine Augen bewegten sich unruhig hin und her, während sich seine Hände in den Manteltaschen zu Fäusten ballten. Vielleicht hatte sie es ja gar nicht so gemeint…Während er dies dachte, wusste er schon, dass dieser Beschwichtigungsversuch sinnlos war. Natürlich war es genau so gemeint …Das hätte sie nicht sagen dürfen …Nun, da er eine Weile stand, merkte er erst, wie kalt es geworden war. Er überquerte den Platz, wandte sich nach links und ging in Richtung Johannesstraße. Dort blickte er nach oben und sah, wie langsam Schnee niederging. Während er planlos seinen Weg fortsetzte, Schneeflocken von seinem Mantel strich, kehrte die Erinnerung wieder, so wie ein Besucher, den man zuerst erfolgreich hingehalten hat und der sich dann doch ungestüm Eintritt verschafft: Wie sie sich vor mir auftürmte…, vor mir aufpflanzte, es sah aus, als wachse sie mit jedem Satz in die Höhe. Die Verachtung in ihrem Blick, diese schneidenden, höhnischen Worte…Es ist höchste Zeit, dass ich mich zur Wehr setze…Autos fuhren vorbei, ein Fahrer hupte. Galt es ihm? Er drehte sich um und bemerkte, dass seine Schuhe nass und mit Schlamm bedeckt waren. Seine Gedanken kehrten zu seiner Frau zurück: Warum nur drängt sie nicht darauf, sich von mir zu trennen, warum versucht sie nicht, mich vor die Tür zu setzen, wo ihr doch das Haus gehört? Denkt sie, es würde mir ohne sie besser gehen und will sie dies vermeiden…? Geht es ihr besser, wenn es mir schlechter geht? Braucht sie mich dafür?
Mittlerweile lag das Bistumshaus St. Ludwig hinter ihm und er näherte sich langsam dem Dom. Nach einer Weile tauchte zu linker Hand das Don Quijotte auf. Er sah hinüber, zur Maximilianstraße. Trotz der Kälte waren Leute zu Fuß unterwegs. Wie entspannt sie wirken, dachte er mit Argwohn und zunehmend grimmig. Wie gelassen und zufrieden! Wie können sie auf solch provozierende Art zur Schau stellen, dass es ihnen gut geht? Er überquerte die Straße und bewegte sich auf eine kleine, hinabführende Gasse zu. Plötzlich erinnerte er sich, dass er einmal genau hier, an dieser Stelle stand, als das Altstadtfest voll im Gange war. Leute drängten sich überall, auf Straßen und Gassen. Damals war er losgezogen, plan- und ziellos und allein. Dabei saß ihm die Ungewissheit im Nacken, wie und mit welchen Worten sie ihn später wieder empfangen würde, wenn er verstohlen die Wohnung betrat. Damals blickte er hin auf die Menge, die sich bei Musik und romantischem Lichtschein, sorglos und lebenslustig in Gruppen zusammenballte. Er sah hin und erlebte sich wieder einmal wie ein Fremdkörper, der keinen Zugang fand. Nach einiger Zeit fiel er damals auf, bis jemand mit dem Finger nach ihm zeigte. Er erinnerte sich an ihre Blicke und wie er in der Dunkelheit verschwand, wie ein scheues Wild, das sich schnell im Gehölz verbirgt.
Nun war er auf Höhe des Domhofs. Selbst bei diesem Wetter stand ein Fenster gekippt. Lichtschein fiel auf die Straße, Stimmen und Gelächter waren zu hören. Leute betraten gut gelaunt den Innenraum des Lokals oder verließen ihn zufrieden. Er passierte sie, ohne sie anzusehen. Am liebsten hätte er sich noch etwas tiefer in den Mantel verkrochen. Er wartete ab, bis Autos vorbeigefahren waren. Dann näherte er sich, an den Pollern des Domplatzes vorbei, dem Domnapf. Er fühlte, wie er die Erinnerung nicht länger niederhalten konnte. Das hätte sie nicht tun dürfen! Er sah sich selbst wieder das Firmengelände betreten: Skeptische Blicke der Kollegen und dann ihre Entdeckung, dass er nichts mitbrachte. Warum hatte sie ihm keinen Kuchen gebacken, aber so getan, als ob? Alle Kollegen gaben am Geburtstag einen aus und er wusste doch, dass sie nur wegen des Kuchens und der Getränke mit ihm zusammensitzen wollten. Das war Absicht! Sie ließ mich auflaufen. Und dann war es zu spät: Noch einen Kuchen kaufen, schnell in die Bäckerei laufen? Nein, nein, das akzeptierten die Kollegen nicht. Die schmeckten den Unterschied heraus und warfen es einem vor. Sie hatte ihm doch immer einen Kuchen gebacken. Nicht meinetwegen, sondern weil alle in der Firma wussten, dass er von ihr stammte und sich ihr Ruf als exzellente Kuchenbäckerin herumsprach. So war die Feier ausgefallen. Nicht, dass ihm da etwas fehlte. Die Feier war immer eine Qual, da er spürte, dass er nicht dazu gehörte, da er ihre befremdeten Blicke wahrnahm, ihre Anspielungen mitbekam. Aber Kuchen verschlangen sie gern und so war ihre Laune ihm gegenüber an diesem Tag immer besser. Aber heute stand ich mit leeren Händen da und die meisten haben mir noch nicht einmal gratuliert. Er sah wieder die Blicke von Kollegen, den bald stummen, bald ausgesprochenen Vorwurf, ihre Enttäuschung, ihr Kopfschütteln. Der Chef des Hauses ließ ihm über seine Sekretärin kühl gratulieren und dann war er den ganzen Tag wieder allein in seinem Kabuff. Das war die schlimmste Strafe, dass sie mich in diesen Kabuff verbannt haben. Dabei habe ich doch damals diese Prüfung abgelegt und gut bestanden, noch eine Fortbildung und Seminare besucht. Buchhaltung, Rechnungsprüfung: Da macht mir so schnell niemand etwas vor! Dies war eine Welt, in der er sich auskannte, die klar, geregelt und überschaubar war, in der die Zahlen nicht eigenmächtig wurden und das Programm seinen Eingaben und Vorgaben zu gehorchen hatte! Oh, ja, er war ein effizienter Buchhalter, ein hervorragender Rechnungsprüfer. Kein Wunder eigentlich, wenn man es von einem anderen Blickwinkel aus bedachte, dass man ihn in diesen kleinen, engen, schlecht beleuchteten Kabuff wegsperrte. Sie konnten bestimmt meine Überlegenheit nicht mehr ertragen, die drei Buchhalterinnen und haben heimlich gegen mich intrigiert. Mittlerweile war er sogar froh, war er doch die meiste Zeit über von ihrem Anblick befreit.
Während er weiterlief, den Domkiosk passierte, sah er sie wieder vor sich. Am meisten nahmen sie ihm bestimmt übel, dass er sich an ihrem Getratsche nicht beteiligte. Was hätte ich auch sagen sollen? Zumal ihn nach einiger Zeit der Verdacht erfüllte, dass sie – hinter meinem Rücken, diese verschlagene Brut! – über ihn tratschten! Wie sie ihre Köpfe zusammensteckten, tuschelten, verstohlen zu ihm hinsahen und dann, wenn er eintrat, plötzlich wieder auseinander gingen... Sicher duldeten sie ihn in der Firma nur, weil er in seinem Fach wirklich gut war. Ja, die Zahlen trügen nicht, ich habe sie im Griff. Wenn er diese endlos langen Listen von Zahlen vor sich sah, die sich aus Forderungen oder Zahlungsverpflichtungen ergaben, so schienen sie ihm wie ein kleines Heer, das seinem Befehl unterstand. Und immer ging die Rechnung auf. Im Grund waren ihm diese Zahlen viel lieber als die Leute, die in der Firma arbeiteten. Die Zahlen fragten nicht aus, gingen nicht auf Distanz, tuschelten nicht und waren nicht falsch.
Mittlerweile war er, am Springbrunnen vorbei und die Treppe hinab, in den Tiefen des Domgartens angekommen. Und was für ein Tag ist heute? Er blickte – gleichsam mit Argwohn – auf sein Gedächtnis. Heute war sein Geburtstag. Und wie feierte er, wer feierte mit ihm? Der Park lag verlassen in der Dunkelheit. Er blickte zu den Bäumen. Wie gut, dass sie immer still waren. Wie oft wünschte er, dass die Leute in der Firma auch so still wären. Aber nein, sie redeten und er hegte zusehends den Verdacht, dass er selbst zum Hauptgegenstand ihrer Gespräche wurde. Tauchte er irgendwo auf, wurden sie plötzlich still, sahen sich vielsagend an. Währenddessen ging er an der Minigolf-Anlage vorbei. Wie lächerlich kam es ihm einmal vor, als er hier an einem Wochenende vorbeilief, wo Familienmitglieder eng zusammenstanden, sich bemühten einzulochen und dann ihre Mienen, wenn es einem von ihnen gelungen war. Als wäre damit irgendetwas gewonnen. Dann taten sie ganz fröhlich und gingen zuversichtlich zur nächsten Station, Leute, die zusammengehörten, die die Gesellschaft genossen und er, er schaute aus der Entfernung zu, hoffte, dass ihre Schläge misslängen. Was für ein Lächeln lag auf ihren Zügen, wenn sie erfolgreich spielten. Sie sahen aus, als wären sie das blühende Leben. Dabei waren sie doch alle Todeskandidaten, wenn man es genau bedachte: Ein paar Jahre oder Jahrzehnte und dann würde ihnen ihr Einlochen nichts mehr nutzen: Dann würde man sie betten, in einen kleinen, engen Raum, in den niemand wollte… und der noch enger war, als der Kabuff, in den man ihn verbannte.